GLÄSERN (German Edition)
zusehen und zuhören konnte … mir war es einerlei und auch, dass mir die harte Sitzfläche – obwohl sie diesen Namen bei Weitem nicht verdiente – den Hintern betäubte, wie nach einer zu großen, gezielt eingesetzten Dosis Opium.
Lord Sandy sah sich noch einmal zu uns um, verdrehte kurz die Augen, als er mich neben dem Kutscher herumrutschen sah, und die Fahrt ging endlich weiter. Die Gepäckkutsche mit Sandy und dem zweiten Kutscher fuhr diesmal voran, wobei ich den Lord stets mit den Armen umher fuchteln sah. Anscheinend war es nicht die Aufgabe des Kutschers, lediglich dem offensichtlichen Weg zu folgen, der sich wie ein Wurm vor uns herschlängelte. Mit neckischen Ratespielen – nicht einmal ließ er mich die Zügel in die Hand nehmen, als sei es eine Wissenschaft für sich, die Gäule voranzubringen, also las ich allein ihm vor – vertrieben sich der Kutscher und ich die Fahrtzeit und mit ihr Ginivers armen Geist, der noch immer in meinem Kopf festsaß wie hartnäckiger, klammer Nebel. Bald schlug ich meinen Roman auf, um mich ein wenig zurückziehen zu können und die perverse Kälte zu verdrängen. Den – nun, ich nenne es ohne Übertreibung – Verrat von Eirwyn konnte ich nicht im Geringsten abschütteln, ebenso wenig die karge walisische Landschaft, die mich an eine Welt noch vor der Erfindung jeglichen Komforts erinnerte, und zudem das Licht irgendwohin verbannt zu haben schien. Irgendwo krächzte eine Krähe oder anderes garstiges Flatterzeug. Unmöglich diesmal, dass es Jezabel gewesen wäre. Über den Rand des Buchrückens hinweg nahm ich alles wahr, wie durch einen Schleier. Mehrmals versuchte ich einen Blick in die Kutsche zu erhaschen, doch entweder erkannte ich nichts oder Kieran ignorierte mich vollends. Ich dachte an den Jäger und seine hungrigen Hände auf der allzu zarten Haut Eirwyns. War das noch Liebe? Eher hatte es den Anschein, Kieran würde beinahe schon obsessiv in sie dringen.
Wenig später passierten wir einen holprigen Pfad, der uns geradewegs, oder besser gesagt, verschlungen wie ein Schneckenhaus, auf einen großen dunklen Felsen zuleitete, vor dem ein langer, schmaler Weiher dümpelte. Wir fuhren entlang des trüben Gewässers, in dem träge braune Schlingpflanzen wogten. Sogar eine tote Kröte trieb mit dem fetten Bauch nach oben darin. Ich schauderte angewidert, und auch der Kutscher wandte sich mit gerunzelter Stirn ab.
»Was haben wir eigentlich erwartet?«, fragte ich mich selbst.
Beim Näherkommen erkannte ich, dass sich ein schlossähnlicher Bau aus dem Gestein hervorhob, von derselben Farbe wie der kalte Fels. Vor einer gewaltigen, jedoch schiefen Treppe, die zu dem monströsen Schloss hinaufreichte, hielten wir an. Kieran stieg zuerst aus und half Eirwyn aus der Kutsche. Sie standen staunend vor dem gewaltigen Bau, der direkt aus dem dahinterliegenden dunklen Berg gehauen zu sein schien! Zahllose Türmchen und Erker ragten wie spitze Dolche in den Himmel, deren Dächer von dichten Wolkenfäden umschlungen wurden, als müssten sie gebändigt werden. Nirgendwo brannte Licht und auch sonst konnte ich kein Lebenszeichen erkennen. Nirgends. Es lief uns kein Bediensteter zur Begrüßung entgegen und sogar Unkraut und das übliche kleine Getier, schienen das Schloss zu meiden. Alles in allem wirkte es beinahe so bedrohlich auf mich, wie die überzeugenden Augen meiner Herrin, und ebenso mesmerisierend. Erneutes Krächzen ließ uns die Köpfe gen Himmel heben. Unwillkürlich dachte ich an den derwyncorph , den Totenvogel der walisischen Folklore. Er solle ein Bote des baldigen Todes sein, sobald man ihn erblickt. Gewöhnlich, erinnerte ich mich an ein Kapitel in meinem Buch über Geistergeschichten, fliegt der derwyncorph jedoch nicht, sondern belagert die Fensterbretter und pickt unheilverkündend an die Scheibe.
Ich sprang vom Kutschbock, wobei ich mir noch einmal demonstrativ das Kreuz rieb, und sah Lord Sandford bereits von der anderen Kutsche aus auf uns zueilen. Ohne ein Wort zu erklären, kramte er das Bündel hervor, das uns die Fahrt über als Fußbank gedient hatte, schleifte es über den Kutschenboden und hievte es auf die breiten Schultern. Sogleich schritt er mit beinahe aggressiven Schritten voran, noch immer ohne ein Wort des Willkommens oder zumindest einer Aufforderung. Je näher er dem schauderhaften Anwesen kam, desto mehr erschien das Schloss wie das steingewordene Bildnis seiner selbst. Massig, viele Erker und verborgene Ecken, schien es mit
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