Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Collin.
Camusot wollte es so einrichten, daß der Augenblick der Rückkehr Jakob Collins zusammenfiel mit der Stunde des Spaziergangs der Angeklagten im Gefängnishof; aber er wollte zuvor eine Antwort des Direktors der Conciergerie auf den Befehl erwarten, den er ihm morgens gegeben hatte; er schellte also, um seinen Gerichtsdiener hinunterzuschicken. Der Gerichtsdiener kam und sagte, die Pförtnerin des Hauses auf dem Quai Malaquais habe ihm wichtige Akten zu übergeben, die sich auf Herrn Lucien von Rubempré bezögen. Dieser Zwischenfall nahm eine solche Bedeutung an, daß Camusot seine Absicht darüber vergaß. »Sie soll eintreten,« sagte er.
»Verzeihung, Entschuldigung, Herr Richter,« sagte die Pförtnerin, indem sie abwechselnd den Richter und den Abbé Carlos Herrera grüßte. »Wir waren in solcher Aufregung, mein Mann und ich, durch die Justiz; zweimal ist sie gekommen, daß wir in unserer Kommode einen Brief vergessen haben, der an Herrn Lucien gerichtet ist; und wir haben noch zehn Sous dafür bezahlt, obgleich er aus Paris ist; denn er ist sehr schwer. Wollen Sie mir das Porto ersetzen? Gott weiß, wann wir unsere Mieter wiedersehen!« »Dieser Brief ist Ihnen von dem Briefträger eingehändigt worden?« fragte Camusot, nachdem er das Kuvert sehr aufmerksam betrachtet hatte. »Ja, Herr Richter.« »Coquart, Sie werden diese Erklärung zu Protokoll nehmen. – Hier, gute Frau. Geben Sie Ihren Namen, Ihren Stand und so weiter an.« Camusot vereidigte die Pförtnerin; dann diktierte er das Protokoll.
Während er diese Förmlichkeiten erfüllte, untersuchte er den Poststempel, der die Aufgabe- und die Ausgabestunden trug, sowie das Datum angab, Nun war dieser Brief, der bei Lucien am Tage nach Esthers Tode abgegeben wurde, ohne jeden Zweifel am Tage der Katastrophe geschrieben und auf die Post gegeben worden.
Man wird sich also vorstellen können, wie verblüfft Herr Camusot war, als er diesen Brief las, der geschrieben und unterzeichnet war von dem Wesen, das die Justiz für das Opfer eines Verbrechens hielt.
»Montag, den 13. Mai 1830.
(Am letzten Tage meines Lebens, zehn Uhr morgens.)
Mein Lucien, ich habe keine Stunde mehr zu leben. Um elf Uhr werde ich tot sein, und ich werde ohne jeden Schmerz sterben. Ich habe fünfzigtausend Franken für eine hübsche kleine schwarze Johannisbeere bezahlt, die ein mit Blitzesgeschwindigkeit tötendes Gift enthält. Du kannst Dir also sagen, mein Liebchen: ›Meine kleine Esther hat nicht gelitten...‹ Ja, ich werde nur leiden, während ich Dir diese Seiten schreibe.
Dieses Ungeheuer, das mich so teuer bezahlte, obwohl er wußte, daß der Tag, an dem ich mich als ihm gehörig ansehen würde, kein Morgen für mich haben sollte, dieser Nucingen ist fort; er war berauscht wie ein Bär, den man betrunken gemacht hat. Zum ersten- und letztenmal in meinem Leben habe ich meinen ehemaligen Beruf als Freudenmädchen mit dem Leben der Liebe vergleichen, die Zärtlichkeit, die im Unendlichen aufblüht, über das Grauen der Pflicht decken können, die sich so sehr vernichten möchte, daß auch für einen Kuß kein Raum mehr bleibt. Es bedurfte dieses Ekels, damit ich den Tod anbetungswürdig fand... Ich habe ein Bad genommen; ich wollte, ich hätte den Beichtvater des Klosters, in dem ich die Taufe empfing, kommen lassen, beichten und mir die Seele reinwaschen können. Aber es ist an der Prostitution ohnehin genug; das hieße ein Sakrament profanieren, und ich fühle zudem, daß ich schon in den Wassern einer aufrichtigen Reue gebadet bin. Gott wird mit mir beginnen, was er will.
Lassen wir all dies Gewinsel, ich will für Dich bis zum letzten Augenblick Deine Esther sein, Dich nicht mehr mit meinem Tod, mit der Zukunft, mit dem lieben Gott langweilen, der auch nicht mehr lieb wäre, wenn er mich in der andern Welt folterte, nachdem ich in dieser schon so viel Schmerzen habe erleiden müssen.
Ich habe Dein entzückendes Bild vor mir, das Frau von Mirbel gemacht hat. Dieses Stück Elfenbein hat mich über Deine Abwesenheit hinweggetröstet; ich sehe es berauscht an, während ich Dir meine letzten Gedanken schreibe und Dir meine letzten Herzschläge schildere. Ich werde Dir das Bild in diesen Brief einlegen, denn ich will nicht, daß man es raube oder verkaufe. Der bloße Gedanke daran, daß das, was meine Freude ausgemacht hat, in der Auslage eines Händlers mit Bildern von Damen oder Offizieren des Kaiserreichs oder chinesischen Kuriositäten durcheinandergerät,
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