Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
weiß, was dieses arme Kind in diesem Augenblick leidet; er ist imstande, etwas gegen sein Leben zu unternehmen, wenn er sich im Gefängnis sieht...« »Oh, was das angeht ...« sagte Camusot mit einem Ruck des Oberkörpers. »Sie wissen nicht, wen Sie verpflichten, wenn Sie mich verpflichten,« fügte Jakob Collin hinzu, denn er wollte andere Saiten anschlagen. »Sie leisten einem Orden einen Dienst, der mächtiger ist als die Gräfin von Sérizy und die Herzogin von Maufrigneuse, die Ihnen nicht verzeihen werden, daß Sie ihre Briefe in Ihrem Zimmer hatten...« sagte er, indem er auf zwei parfümierte Bündel zeigte. »Mein Orden hat ein Gedächtnis ...« »Genug,« sagte Camusot, »genug! Suchen Sie andere Gründe, die Sie mir angeben können. Ich bin ebensosehr für den Angeschuldigten da wie für die Wahrnehmung der öffentlichen Interessen.« »Nun, glauben Sie mir, ich kenne Lucien, er hat die Seele einer Frau, eines Dichters und Südländers, eine Seele ohne Halt und Willen,« fuhr Jakob Collin fort, denn er glaubte endlich erraten zu haben, daß der Richter auf seiner Seite stand. »Sie sind von der Unschuld dieses jungen Mannes überzeugt; quälen Sie ihn nicht, verhören Sie ihn nicht; übergeben Sie ihm diesen Brief, sagen Sie ihm, daß er Esthers Erbe ist, und setzen Sie ihn in Freiheit... Wenn Sie anders handeln, werden Sie einst darüber in Verzweiflung geraten; wenn Sie ihn dagegen ganz einfach freilassen, so werde ich Ihnen – behalten Sie mich in Einzelhaft – morgen, heute abend alles erklären, was Ihnen in dieser Angelegenheit noch geheimnisvoll erscheinen könnte, sowie auch die Gründe der erbitterten Verfolgung, die sich gegen mich richtet; aber ich setze dabei mein Leben aufs Spiel, man will mir seit fünf Jahren an den Kopf... Ist Lucien frei, reich und mit Klotilde von Grandlieu vermählt, so ist meine Aufgabe auf Erden erfüllt, und ich werde meine Haut nicht mehr verteidigen... Mein Verfolger ist ein Spion Ihres letzten Königs.« »Ah, Corentin!« »Ah, er heißt Corentin?... Ich danke Ihnen... Nun, Herr Richter, wollen Sie mir versprechen, um was ich Sie bitte?« »Ein Richter kann und darf nichts versprechen. – Coquart, beauftragen Sie den Gerichtsdiener und die Gendarmen, den Gefangenen in die Conciergerie zurückzuführen... Ich werde Befehl erteilen, daß Sie heute abend in die Pistole kommen,« fügte er sanft hinzu, indem er dem Gefangenen leicht mit dem Kopf zunickte.
Da Camusot die Bitte auffiel, die Jakob Collin soeben an ihn gerichtet hatte, und da er sich zugleich entsann, mit welcher Beharrlichkeit er verlangt hatte, als erster verhört zu werden, indem er sich auf seinen Krankheitszustand berief, so kehrte sein ganzes Mißtrauen zurück. Während er auf seinen unbestimmten Argwohn lauschte, sah er, wie der angeblich Sterbende gleich einem Herkules davonging, ohne all die gut gespielten Grimassen, die sein Auftreten begleitet hatten. »Herr Abbé?« Jakob Collin wandte sich um. »Mein Kanzlist wird Ihnen das Protokoll Ihres Verhörs trotz Ihrer Weigerung, es zu unterschreiben, vorlesen.«
Der Gefangene erfreute sich einer ausgezeichneten Gesundheit; die Bewegung, mit der er sich neben den Kanzlisten setzte, war für den Richter ein letzter Lichtstrahl. »Sie sind schnell genesen?« sagte Camusot. ›Ich bin gefaßt,‹ dachte Jakob Collin; dann antwortete er mit lauter Stimme: »Die Freude, Herr Richter, ist das einzige Allheilmittel, das es gibt... Dieser Brief, der Beweis einer Unschuld, an der ich nicht zweifelte ... das ist die große Arznei.«
Der Richter folgte seinem Gefangenen, als ihn der Gerichtsdiener und die Gendarmen umringten, mit einem nachdenklichen Blick. Dann machte er die Bewegung eines Erwachenden und warf Esthers Brief auf den Tisch seines Kanzlisten. »Coquart, kopieren Sie diesen Brief.«
Wenn es schon in der Natur des Menschen liegt, allem zu mißtrauen, was zu tun man ihn bittet, sobald es gegen seine Interessen oder gegen seine Pflicht geht, oft sogar auch, wenn es ihm gleichgültig ist, so ist diese Empfindung für den Untersuchungsrichter Gesetz. Je mehr Wolken der Untersuchungsgefangene, dessen Personalien noch nicht feststanden, am Horizont ahnen ließ, falls Lucien verhört würde, um so notwendiger erschien Camusot dieses Verhör. Wäre diese Formalität auch nach dem Gesetz und dem Brauch nicht unentbehrlich gewesen, so wurde sie durch die Frage nach der Identität des Abbé Carlos Herrera erforderlich. In allen Laufbahnen gibt es ein
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