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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Berufsgewissen. Wäre Camusot nicht neugierig gewesen, so hätte er Lucien aus Rücksicht auf seine Richterehre doch verhört, wie er eben Jakob Collin verhört hatte, nämlich unter Entfaltung der Listen, die sich selbst der rechtschaffenste Richter erlaubt. Der Dienst, den er leisten konnte, seine Beförderung, all das kam bei Camusot erst nach dem Wunsch, die Wahrheit zu erfahren, sie zu erraten, um sie dann vielleicht zu verschweigen. Er trommelte gegen die Fensterscheiben, indem er sich dem strömenden Lauf seiner Vermutungen überließ, denn in solchen Augenblicken gleicht das Denken einem Fluß, der tausend Gegenden durcheilt. Als Liebhaber der Wahrheit gleichen die Richter den eifersüchtigen Frauen; sie geben sich tausend Vermutungen hin und durchwühlen sie mit dem Dolch des Argwohns, wie etwa der antike Opferpriester den Opfern die Eingeweide herausnahm; dann machen sie halt, nicht bei der Wahrheit, sondern beim Wahrscheinlichen, und schließlich dämmert ihnen die Wahrheit auf. Eine Frau verhört einen geliebten Mann, wie ein Richter den Verbrecher verhört. In solcher Stimmung genügt ein Blitz, ein Wort, eine Biegung der Stimme, ein Zögern, um die Tatsache, den Verrat, das verborgene Verbrechen anzudeuten.
    »Die Art, wie er mir seine Liebe zu seinem Sohn schilderte – wenn es sein Sohn ist –, könnte mir den Glauben eingeben, er habe sich ins Haus dieser Dirne begeben, um über das Geld zu wachen; und ohne zu ahnen, daß das Kopfkissen der Toten ein Testament verbarg, hat er ›zur Vorsicht‹ die siebenhundertfünfzigtausend Franken für seinen Sohn gestohlen... Deshalb versprach er, die Summe wieder herbeizuschaffen. Herr von Rubempré ist es sich selbst, ist es der Rechtsprechung schuldig, den Zivilstand seines Vaters aufzuklären... Und mir das Wohlwollen seines Ordens – seines Ordens! – zu versprechen, wenn ich Lucien nicht verhöre!...« Bei diesem Gedanken verweilte er.
    Wie man soeben gesehen hat, leitet ein Untersuchungsrichter das Verhör ganz nach Belieben. Es steht ihm frei, gewandt zu sein oder nicht. Ein Verhör ist nichts und alles. Darin liegt die Begünstigung. Camusot schellte, der Gerichtsdiener war zurückgekommen. Er gab den Befehl, Herrn Lucien von Rubempré zu holen, doch schärfte er zugleich ein, ihn während der Überführung mit niemandem sprechen zu lassen, wer es auch sei. Es war gerade zwei Uhr nachmittags.
    »Hier liegt ein Geheimnis verborgen,« sagte der Richter bei sich selber, »und dieses Geheimnis muß recht wichtig sein. Der Gedankengang meiner Amphibie, die weder Priester noch Weltmann, weder Sträfling noch Spanier ist, die aber aus dem Munde ihres Schützlings irgendein furchtbares Wort nicht herauslassen will, läuft so: ›Der Dichter ist schwach, er ist eine Frau; er ist nicht wie ich, denn ich bin der Herkules der Diplomatie; und Sie würden ihm unser Geheimnis leicht entreißen!‹ Nun, wir werden von dem Unschuldigen alles erfahren.«
    Und er begann, mit seinem Elfenbeinmesser gegen den Tischrand zu klopfen, während sein Kanzlist Esthers Brief kopierte. Wieviel Wunderlichkeiten es im Gebrauch unserer Verstandeskräfte gibt! Camusot nahm alle nur möglichen Verbrechen an, und nur an dem einzigen, das der Untersuchungsgefangene begangen hatte, lief er vorbei: an der Testamentsfälschung zugunsten Luciens. Alle, deren Neid gegen die Stellung der Richter anrennt, mögen doch an dieses Leben denken, das in beständigem Argwohn verstreicht, an die Folter, der solche Leute ihren Geist unterwerfen, denn die Zivilprozesse sind nicht minder verwickelt als die Kriminalprozesse; dann werden sie sich vielleicht sagen, daß der Priester und der Richter einen Panzer tragen, der gleich schwer ist, gleichermaßen innen mit Spitzen versehen. Übrigens hat jeder Beruf sein Büßerhemd und sein Kopfzerbrechen. Gegen zwei Uhr sah Herr Camusot Lucien von Rubempré eintreten: er war bleich und niedergeschlagen, die Augen rot und geschwollen, kurz, in einem Zustand des Zusammenbruchs, der dem Richter erlaubte, die Natur mit der Kunst zu vergleichen, den wahren Sterbenden mit dem Sterbenden des Theaters. Diese Überführung aus der Conciergerie bis zum Zimmer des Richters, zwischen zwei Gendarmen, denen ein Gerichtsdiener vorausschritt, hatte bei Lucien die Verzweiflung auf die Spitze getrieben. Es liegt im Geist eines Dichters, daß er die Marter dem Urteil vorzieht. Als Herr Camusot dieses Wesen sah, dem jener moralische Mut, wie er den Richter auszeichnet und wie der

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