Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
zehn Jahren in einer bürgerlichen Pension, wo sie ihn unter dem Namen Vautrin gekannt haben, vor ihren Augen verhaftet wurde, nicht wiedererkennen.«
Es herrschte einen Augenblick Schweigen, während dessen Frau Camusot überlegte. »Bist du sicher, daß dein Gefangener Jakob Collin ist?« fragte sie. »Ganz sicher,« erwiderte der Richter, »und der Oberstaatsanwalt ist es auch.« »Nun, versuche doch, ohne deine Katzenkrallen zu zeigen, im Justizpalast einen Eklat herbeizuführen! Wenn der Mensch noch in Einzelgewahrsam ist, so suche sofort den Direktor der Conciergerie auf und richte es so ein, daß der Sträfling dort öffentlich erkannt wird. Statt es wie die Kinder zu machen, ahme vielmehr die Polizeiminister in den absolut regierten Ländern nach, die eine Verschwörung gegen den Herrscher erfinden, um sich das Verdienst zu erwerben, daß sie sie vereitelt haben; und um dich unentbehrlich zu machen, bringe drei Familien in Gefahr, damit dir der Ruhm zufällt, sie gerettet zu haben!« »Ah, welch ein Glück!« rief Camusot. »Mir ist der Kopf so wirr, daß ich diesen Umstand ganz vergaß. Ich habe Herrn Gault, dem Direktor der Conciergerie, durch Coquart den Befehl übermittelt, Jakob Collin in die Pistole zu überführen. Nun hat man durch Bibi-Lupin, Jakob Collins Feind, drei Verbrecher, die ihn kennen, aus der Force in die Conciergerie bringen lassen; und wenn er morgen in den Gefängnishof hinunterkommt, so macht man sich auf furchtbare Szenen gefaßt...« »Und weshalb?« »Jakob Collin, meine Liebe, hat das Vermögen der Bagnosträflinge in Verwahrung; es beläuft sich auf beträchtliche Summen, und man sagt, er habe sie vergeudet, um den Aufwand des verstorbenen Lucien zu bestreiten; jetzt wird man Rechenschaft von ihm verlangen. Bibi-Lupin behauptet, es werde einen Aufruhr geben, der ein Einschreiten der Aufseher nötig machen werde; dann ist das Geheimnis entdeckt. Es geht dabei um Jakob Collins Leben. Wenn ich mich früh in den Palast begebe, kann ich gleich ein Protokoll über die Identität aufnehmen.« »Ach, wenn seine Gläubiger dich von ihm befreiten! Da würde man dich als einen höchst geschickten Menschen ansehen. Geh nicht zu Herrn von Granville; erwarte ihn mit dieser furchtbaren Waffe in seinem Sitzungszimmer. Das ist eine geladene Kanone, die auf die drei wichtigsten Familien des Hofes und der Pairschaft gerichtet ist. Sei verwegen, schlage Herrn von Granville vor, dich Jakob Collins zu entledigen, indem du ihn in die Force schaffen läßt, wo die Sträflinge sich ihrer Denunzianten zu entledigen wissen. Ich selbst werde zur Herzogin von Maufrigneuse gehen, die mich zu den Grandlieus führen muß. Vielleicht kann ich auch Herrn von Sérizy sprechen. Verlaß dich darauf, daß ich überall Alarm schlage. Schreibe mir vor allem ein vereinbartes Wort, damit ich weiß, ob der spanische Priester rechtskräftig als Jakob Collin erkannt worden ist. Richte dich so ein, daß du den Palast um zwei Uhr verlassen kannst; ich habe dir dann eine Audienz beim Justizminister erwirkt: vielleicht wird er bei der Marquise d'Espard sein.«
Camusot stand wie angewurzelt da in seiner Bewunderung, die der schlauen Amelie ein Lächeln entlockte. »Komm zu Tisch und sei lustig,« sagte sie zum Schluß. »Sieh, wir sind erst zwei Jahre in Paris, und jetzt bist du auf dem besten Wege, vor Jahresablauf Königlicher Rat zu werden... Von da, mein Liebling, bis zur Präsidentschaft einer Kammer des zweitinstanzlichen Gerichts bleibt dann nur noch ein kleiner Abstand, den ein Dienst in einer politischen Angelegenheit leicht überbrücken wird.«
Diese geheime Überlegung zeigt, bis zu welchem Grade die Handlungen und die geringsten Worte Jakob Collins, des letzten, der von den Hauptcharakteren dieser Studie noch übrig war, die Ehre der Familien angingen, in deren Schoß er seinen verstorbenen Schützling eingeführt hatte.
Luciens Tod und der Einbruch der Gräfin von Sérizy in die Conciergerie hatten im Räderwerk der Maschine eine solche Verwirrung angerichtet, daß der Direktor vergessen hatte, die Geheimhaft des angeblichen spanischen Priesters aufzuheben.
Obgleich es in den Gerichtsannalen mehr als ein Beispiel dafür gibt, so war doch der Tod eines Untersuchungsgefangenen während der Voruntersuchung selten genug, um Aufseher, Kanzlisten und Direktor aus ihrer Ruhe zu bringen. Sie freilich beschäftigte es weniger, daß dieser schöne junge Mann so plötzlich abgeschieden war, als daß eine Frau der
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