Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Man kann sich trotz der Ereignisse des Juli 1830 noch heute des Entsetzens erinnern, das dieser verwegene Streich in Paris hervorrief; in seiner Bedeutung war er dem Diebstahl der Medaillen aus der Bibliothek zu vergleichen; denn der unselige Hang unserer Zeit, alles in Ziffern umzusetzen, macht einen Mord um so auffälliger, je beträchtlicher die Summe ist, um die es sich handelt.
La Pouraille, ein dürrer und magerer Mensch mit einem Mardergesicht, war jetzt fünfundvierzig Jahre alt; er war eine der Berühmtheiten der drei Bagnos gewesen, die er seit seinem neunzehnten Jahre nacheinander bewohnt hatte, und er kannte Jakob Collin genau; man wird sehen wieso und weshalb. Zwei weitere Sträflinge, die man vor vierundzwanzig Stunden mit La Pouraille aus der Force in die Conciergerie überführt hatte, hatten diesen unheimlichen König, den ›Freund‹, der dem Schafott versprochen war, auf der Stelle erkannt und den ganzen Hof auf ihn aufmerksam gemacht. Einer dieser Sträflinge, ein Entlassener namens Sélérier, genannt, ›der Auvergnat‹, ›Vater Ralleau‹ und ›der Hausierers‹, führte unter der oberen Gesellschaft der großen Gauner des Bagnos den Beinamen ›Seidenfaden‹, den er der Gewandtheit verdankte, mit der er den Gefahren des Berufs entging; er war einer der ehemaligen Spießgesellen Jakob Collins. Betrüg-den-Tod hatte Seidenfaden so sehr in Verdacht, eine doppelte Rolle zu spielen, nämlich zugleich das Vertrauen der großen Gauner zu genießen und im Sold der Polizei zu stehen, daß er ihm (siehe ›Vater Goriot‹) seine Verhaftung im Jahre 1819 im Hause Vauquer zugeschrieben hatte. Sélérier, den wir Seidenfaden nennen müssen, ebenso wie Dannepont La Pouraille heißen wird, der schon dadurch schuldig war, daß er sich der Polizeiaufsicht entzogen hatte, war jetzt in eine Reihe schwerer Diebstähle verwickelt, bei denen zwar kein Tropfen Bluts vergossen worden war, die ihn aber doch auf wenigstens zwanzig Jahre wieder ins Bagno schicken mußten. Der dritte Sträfling, der Riganson hieß, bildete mit seiner Konkubine, genannt La Bisse, eine der beängstigendsten Familien in der Aristokratie des Verbrechens. Riganson, der schon seit seinen zartesten Jahren mit der Rechtsprechung auf gespanntem Fuße lebte, trug den Beinamen Le Biffon. Le Biffon war das Männchen der Bisse, denn für die Aristokratie des Verbrechens gibt es nichts, was heilig wäre. Diese Wilden achten weder das Gesetz noch die Religion, nichts, nicht einmal das Leben der Natur, deren geweihte Nomenklatur, wie man sieht, von ihnen parodiert wird.
Hier ist eine Abschweifung nötig; denn Jakob Collins Auftreten auf dem Gefängnishof, sein Erscheinen mitten unter seinen Feinden, das Bibi-Lupin und der Untersuchungsrichter so gut vorbereitet hatten, die wunderlichen Szenen, die sich daraus ergeben sollten, all das wäre hier unerzählbar und unverständlich ohne ein paar Aufklärungen über die Welt der Diebe und des Bagnos, über ihre Gesetze, ihre Sitten und vor allem ihre Sprache, deren grauenhafte Poesie in diesem Teil der Erzählung unentbehrlich ist. Vor allem also ein Wort über die Sprache der Betrüger, der Gauner, der Diebe und der Mörder, die man das ›Rotwelsch‹ nennt und die die Literatur in letzter Zeit mit solchem Erfolg angewandt hat, daß mehr als ein Wort dieses seltsamen Wortschatzes über die rosigen Lippen junger Frauen gekommen, unter vergoldeter Decke erklungen ist und Fürsten amüsiert hat, von denen mehr als einer sich ›beschuppt‹ nennen kann. Sagen wir es, und vielleicht wird es viele erstaunen: es gibt keine kraftvollere, farbigere Sprache als die dieser unterirdischen Welt, die sich seit dem Entstehen der großen Reiche mit Hauptstädten in den Kellern, den Pfuhlen, in der dritten Versenkung der Gesellschaften regt, um dem Theater einen lebhaften und packenden Ausdruck zu entlehnen. Ist nicht die ganze Welt ein Theater? Die dritte Versenkung ist der unterste Keller unter dem Boden der Oper; sie birgt die Maschinen, die Maschinisten, die Podeste, die Erscheinungen, die blauen Teufel, die die Hölle ausspeit, usw.
Jedes Wort dieser Sprache ist ein brutales, geistreiches oder furchtbares Bild. Im Argot schläft man nicht, man ›kullert‹. Man beachte, mit welcher Kraft dieses Verbum den Schlummer malt, der dem verfolgten, ermüdeten, mißtrauischen Tier eigen ist, das man Dieb nennt, und das, sowie es in Sicherheit ist, unter den gewaltigen Flügeln des Verdachts, der immer über ihm
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