Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
sind Lucien zu nah, um Gott nicht fern zu sein.« »Ja, ich dachte an nichts mehr!« »Sie werden nie irgendeiner Religion angehören,« sagte der Priester mit einer Regung tiefer Ironie. »Gott ist gut,« erwiderte sie; »er liest in meinem Herzen.«
Besiegt von der entzückenden Naivität, die in Esthers Stimme, Blick, Gesten und Haltung durchbrach, küßte Herrera sie zum erstenmal auf die Stirn. »Die Wüstlinge hatten dir mit Recht deinen Namen gegeben: du würdest Gott, den Vater, verführen, Noch ein paar Tage, es ist nötig, und nachher sollt ihr alle beide frei sein.« »Alle beide!« wiederholte sie in ekstatischer Freude.
Diese von ihnen aus der Ferne beobachtete Szene setzte die Zöglinge und die Oberin in Erstaunen; sie glaubten einer Zauberverwandlung beizuwohnen, als sie Esther mit ihrem früheren Selbst verglichen. Das völlig verwandelte Kind lebte jetzt. Sie zeigte sich in ihrer wahren Liebesnatur, zierlich, kokett, lockend und lustig: kurz, sie war auferweckt.
Herrera wohnte in der Rue Cassette, in der Nähe von Saint-Sulpice, der Kirche, der er sich angeschlossen hatte. Dieser Bau sagte dem Spanier mit seinem harten und trockenen Stil zu, denn seine Religion hatte viel von der der Dominikaner. Als ein verlorener Posten der verschlagenen Politik Ferdinands VII, leistete er der konstitutionellen Sache schlimme Dienste, obwohl er wußte, daß diese Ergebenheit niemals ihren Lohn finden konnte, es sei denn bei einer Wiedereinsetzung des Rey netto. Und Carlos Herrera hatte sich in dem Augenblick, als es schien, daß die Cortes nicht mehr zu stürzen waren, mit Leib und Seele der Kamarilla ergeben. Für die Welt verriet dieses Verhalten eine überlegene Seele. Der Feldzug des Herzogs von Angoulême war erfolgt, König Ferdinand herrschte, und Carlos Herrera ging nicht nach Madrid, um sich den Preis für seine Dienste zu holen. Gegen die Neugier verteidigte ihn ein diplomatisches Schweigen, und als Grund seines Aufenthalts in Paris führte er seine lebhafte Neigung zu Lucien von Rubempré an, der der junge Mann bereits die Verordnung des Königs bezüglich seines Namenswechsels verdankte. Herrera lebte übrigens, wie der Tradition nach alle Priester leben, die in geheimen Missionen Verwendung finden: nämlich sehr im Dunkeln. Er erfüllte seine religiösen Pflichten zu Saint-Sulpice, ging nur in Geschäften aus, und zwar auch das stets am Abend und im Wagen. Seinen Tag füllte die spanische Siesta aus, die den Schlaf zwischen die beiden Mahlzeiten legt und auf diese Weise die ganze Zeit in Anspruch nimmt, während derer Paris in geschäftigem Aufruhr lebt. Auch die spanische Zigarre spielte ihre Rolle und verzehrte ebensoviel Zeit wie Tabak. Die Faulheit ist wie der Ernst eine Maske; und auch der Ernst ist nur Faulheit. Herrera wohnte im zweiten Stock des einen Flügels des Hauses, und Lucien hatte den andern inne. Die beiden Wohnungen wurden durch einen großen Empfangssaal, dessen antiker Prunk ebensosehr zu dem ernsten Geistlichen wie zu dem jungen Dichter paßte, sowohl verbunden wie getrennt. Der Hof dieses Hauses war düster. Große, dichte Bäume beschatteten den Garten. Stille und Verschwiegenheit begegnen sich in den Häusern, die Priester wählen. Herreras Zimmer läßt sich mit zwei Worten beschreiben: eine Zelle. Das Luciens glänzte von Luxus und war mit ausgesuchten Bequemlichkelten versehen; es vereinigte alles, was das elegante Leben eines Dandys, Dichters und Schriftstellers erfordert, der ehrgeizig, lasterhaft, zugleich stolz und eitel und voller Nachlässigkeit ist, während er sich doch nach der Ordnung sehnt: eines jener unvollständigen Genies, die im Begehren und im Entwurf, was vielleicht dasselbe ist, einige Gewalt besitzen, aber zur Ausführung nicht die Kraft haben. Zusammen bildeten Lucien und Herrera einen Politiker. Darin lag ohne Zweifel das Geheimnis dieses Bundes. Greise, bei denen die Aktion des Lebens sich verschoben und in die Sphäre der Interessen verirrt hat, fühlen oft das Bedürfnis eines hübschen Dekorationsstücks, eines jungen und leidenschaftlichen Schauspielers für die Ausführung ihrer Pläne. Richelieu suchte zu spät nach einem schönen, weißen Gesicht mit Schnurrbart, um es den Frauen hinzuschieben, die er amüsieren mußte. Da ihn junge Leichtfüße nicht verstanden, war er gezwungen, die Mutter seines Herrn zu verbannen und der Königin Angst einzuflößen, nachdem er zuvor versucht hatte, beide in sich verliebt zu machen; freilich hatte er
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