Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
sie wundern sich über nichts.
    Daher hatte denn auch Jakob Collin, vor sich selber auf der Hut, bisher sowohl in der Force wie in der Conciergerie seine Rolle als Unschuldiger und als Fremdling wundervoll gespielt. Als er aber von seinem Schmerz gefällt und von seinem doppelten Tode zermalmt war, denn in dieser verhängnisvollen Nacht war er zweimal gestorben, wurde er wieder zu Jakob Collin. Aufseher war verblüfft, als er diesem spanischen Priester nicht erst zu sagen brauchte, wie er auf den Gefängnishof kommen würde. Dieser vollendete Schauspieler vergaß seine Rolle; er stieg als Stammgast der Conciergerie die Wendeltreppe der Tour Bonbec hinab. ›Bibi-Lupin hat recht,‹ sagte der Aufseher bei sich selber, ›das ist ein Retourgaul, es ist Jakob Collin.‹
    In dem Augenblick, als Betrüg-den-Tod sich in dem Rahmen zeigte, den die Tür des Turmes um ihn legte, zerstreuten sich eben die Gefangenen, nachdem sie an dem Steintisch, der nach dem heiligen Ludwig benannt wird, ihre Einkäufe gemacht hatten, über den Hof, der für sie stets zu eng ist; der neue Gefangene wurde also von ihnen allen zugleich bemerkt, und zwar um so schneller, als kein Blick an Schärfe dem der Gefangenen gleicht, die wie die Spinne im Mittelpunkt ihres Netzes auf ihrem Hofe stehen. Dieser Vergleich ist von mathematischer Genauigkeit, denn da das Auge auf allen Seiten von hohen und schwarzen Mauern gehemmt wird, sieht der Gefangene immer, auch wenn er nicht hinblickt, die Tür, durch die die Aufseher eintreten, und die Fenster des Sprechzimmers und der Treppe der Tour Bonbec, die einzigen Ausgänge des Hofes. In der strengen Absonderung, in der der Gefangene sich befindet, ist für ihn alles ein Ereignis; alles beschäftigt ihn; seine Langweile, die der des Tigers im Käfig des Zoologischen Gartens zu vergleichen ist, verzehnfacht seine Wahrnehmungskraft. Es ist auch nicht überflüssig, zu bemerken, daß Jakob Collin – gekleidet wie ein Geistlicher, der sich nicht streng an das Kostüm hält – eine schwarze Hose, schwarze Strümpfe, Schuhe mit silbernen Schnallen, eine schwarze Weste und einen dunkelbraunen Rock trug, dessen Schnitt den Priester verrät, was er auch tue, zumal wenn diese Kennzeichen durch die charakteristische Haartracht ergänzt werden. Jakob Collin trug eine im höchsten Grade geistliche und wundervoll natürliche Perücke.
    »Sieh da, sieh da!« sagte La Pouraille zu Le Biffon, »ein schlimmes Zeichen! Ein Schwarzwild (Priester)! Wie kommt so einer hierher?« [Fußnote: Dieser ganze Dialog ist in jenem Rotwelsch geschrieben, das wir in der Übersetzung nur andeuten.] »Das ist einer ihrer Schliche, ein neuer Koch (Spion),« erwiderte Seidenfaden. »Das ist irgendein verkleideter Schnürenhändler (Gendarm), der hier sein Gewerbe treiben will.«
    Der Gendarm hat im Rotwelsch verschiedene Namen; wenn er einen Dieb verfolgt, ist er ein ›Schnürenhändler‹; wenn er ihn geleitet, ist er eine ›Richtplatzschwalbe‹; wenn er ihn zum Schafott bringt, ist er ein ›Guillotinenhusar‹.
    Um das Gemälde des Gefängnishofes zu vervollständigen, ist es vielleicht nötig, in ein paar Worten auch die beiden andern Spitzen zu schildern. Sélérier, genannt ›der Auvergnat‹, ›Vater Ralleau‹, ›der Hausierer‹ und ›Seidenfaden‹ – er hatte dreißig Namen und ebenso viele Pässe –, soll nur noch bei dem letzten Spitznamen benannt werden, dem einzigen, den man ihm in der Aristokratie gab. Dieser tiefgründige Philosoph, der in dem falschen Priester einen Gendarmen sah, war ein Bursche von fünf Fuß vier Zoll Höhe, dessen sämtliche Muskeln wunderlich ruckweise Bewegungen machten. Unter einem ungeheuren Schädel ließ er kleine verdeckte Augen umherzucken, die denen der Raubvögel glichen; die Wimpern waren grau, glanzlos und scharf. Auf den ersten Blick sah er einem Wolf gleich, und zwar vermöge der Breite seiner kräftig gezeichneten und vorspringenden Kiefern; aber wenn diese Ähnlichkeit auf große Grausamkeit, ja Wildheit deutete, so wurde das wieder ausgeglichen durch die Schlauheit und die Lebhaftigkeit seiner Züge, die freilich von Pockennarben durchfurcht waren. Der Rand einer jeden Narbe war sauber umrissen und gleichsam geistreich. Man las tausend Spöttereien darin. Das Leben der Verbrecher, das Hunger und Durst mit sich bringt, Nächte im Biwak der Kais und Ufer, der Brücken und Straßen, und Orgien in starkem Branntwein, mit denen man die Erfolge feiert, hatte über dieses Gesicht

Weitere Kostenlose Bücher