Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
XVIII. sind in Ungnade. Übrigens glaubt man, wie Corentin mir gestern sagte, nicht mehr an die Regsamkeit und Findigkeit eines Siebzigers... Ach, weshalb habe ich mir angewöhnt, bei Véry zu speisen, köstliche Weine zu trinken... bei Mutter Godichon lustige Liedchen zu singen und zu spielen, wenn ich Geld habe? Um sich eine Stellung zu sichern, genügt es nicht, daß man Geist hat, wie Corentin sagt, sondern man muß auch noch den Geist der guten Haltung besitzen! Dieser teure Herr Lenoir hat mir mein Los ja vorausgesagt, als er bei Gelegenheit der Halsbandaffäre rief: ›Sie werden es nie zu etwas bringen!‹ sobald er erfuhr, daß ich nicht unter dem Bett der Dirne Oliva geblieben war.‹
Wenn der ehrwürdige Vater Canquoelle – man nannte ihn auch in seinem Hause Vater Canquoelle – im vierten Stock der Rue des Moineaux geblieben war, so kann man wohl glauben, daß er in der Verteilung der Räume Eigentümlichkeiten gefunden hatte, die die Ausübung seiner furchtbaren Obliegenheiten begünstigten. Sein Haus lag an der Ecke der Rue Saint-Roche und stand auf der einen Seite frei. Da es vermittelst einer Treppe in zwei Teile geteilt war, lagen in jedem Stockwerk zwei Zimmer, die absolut abgeschlossen waren. Diese beiden Zimmer blickten in die Rue Saint-Roche. Oberhalb des vierten Stocks erstreckten sich die Mansarden, deren eine als Küche diente, während die andere von der einzigen Dienerin des Vaters Canquoelle bewohnt wurde; es war eine Flamländerin namens Katt, die Lydia gesäugt hatte. Der Vater Canquoelle hatte das eine der abgetrennten Zimmer zu seinem Schlafzimmer gemacht, das andere zum Arbeitszimmer. Eine dicke Mauer schloß dieses Arbeitszimmer nach hinten ab. Das Fenster, das auf die Rue des Moineaux ging, blickte auf eine einspringende Mauer ohne Fenster. Da nun die ganze Breite des Schlafzimmers die beiden Freunde von der Treppe trennten, so fürchteten sie keinen Blick und kein Ohr, wenn sie in diesem für ihr furchtbares Gewerbe eigens geschaffenen Zimmer von Geschäften sprachen. Aus Vorsicht hatte Peyrade in das Zimmer der Flamländerin ein Strohbett und einen mit Kuhhaargewebe unterlegten sehr dicken Teppich getan, indem er sagte, er wolle die Amme seines Kindes damit erfreuen. Ferner hatte er den Kamin vermauert und bediente sich eines Ofens, dessen Rohr durch die Außenmauer auf die Rue Saint-Roche ging. Schließlich hatte er den Boden mit mehreren Teppichen bedeckt, um die Bewohner des untern Stockwerks daran zu hindern, daß sie das geringste Geräusch auffingen. Da er in allen Spionagemitteln bewandert war, so untersuchte er einmal in der Woche die hintere Mauer, die Decke und den Boden und durchforschte sie wie jemand, der lästige Insekten töten will. Die Gewißheit, daß er hier ohne Zeugen und Zuhörer war, hatte auch Corentin veranlaßt, dieses Arbeitszimmer als Beratungssaal zu wählen, wenn er nicht zu Hause beriet. Corentins Wohnung war nur dem Generalpolizeidirektor des Königreichs und Peyrade bekannt; er empfing dort diejenigen Persönlichkeiten, die das Ministerium oder die Krone in ernsten Sachen zu Vermittlern nahmen; aber kein Agent, kein Subalterner kam dorthin, und die Berufsangelegenheiten erledigte er bei Peyrade. In diesem unscheinbaren Zimmer wurden Pläne gesponnen, wurden Entschlüsse gefaßt, die wunderliche Annalen und seltsame Dramen ergeben würden, wenn die Mauern reden könnten. Dort wurden zwischen 1816 und 1826 ungeheure Interessen analysiert. Dort wurden die Keime der Ereignisse entdeckt, die so schwer auf Frankreich lasten sollten. Dort sagten sich Peyrade und Corentin, die ebenso klarblickend, aber besser unterrichtet waren als der Generalprokurator Bellart, schon 1819: ›Wenn Ludwig XVIII. den und den Schlag nicht führen, sich des und des Prinzen nicht entledigen will, so verabscheut er also seinen Bruder? Er will ihm also eine Revolution vermachen?‹ Peyrades Tür war mit einer Schiefertafel versehen, auf der er zuweilen, mit Kreide geschrieben, wunderliche Zeichen und Ziffern fand. Diese Höllenalgebra gab den Eingeweihten sehr klare Anweisungen. Lydias Wohnung lag der so kümmerlichen Peyrades gegenüber; sie bestand aus einem Vorzimmer, einem kleinen Salon, einem Schlafzimmer und einer Ankleidekammer. Lydias Tür bestand wie die zu Peyrades Schlafzimmer aus einer Eisenplatte von vier Zoll Dicke, die zwischen zwei starken Eichenplanken lag; sie war mit Schlössern und einem Angelsystem versehen, die einen Einbruch ebenso schwierig machten wie
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