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Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)

Titel: Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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leben! ... Laß uns, Lucien, geh und pflücke Sonette,« sagte er, indem er ihm in wenigen Schritten Entfernung ein Feld zeigte.
    Lucien warf einen bettelnden Blick auf Esther, einen jener Blicke, wie sie solchen schwachen, gierigen Menschen eigen sind, deren Herz voller Zärtlichkeit und deren Charakter voller Feigheit ist. Esther antwortete ihm mit einem Kopfnicken, das etwa sagen sollte: ›Ich will den Henker anhören, um zu sehen, wie ich den Kopf unters Beil legen muß; ich werde den Mut haben, ruhig zu sterben.‹ Das war so anmutig und zugleich so grauenvoll, daß der Dichter weinen mußte; Esther lief zu ihm, schloß ihn in die Arme, trank seine Tränen und sagte zu ihm: »Sei ruhig!« – eines jener Worte, die man mit den Gesten, den Augen und der Stimme des Deliriums sagt.
    Carlos begann, ohne Umschweife, klar und oft mit furchtbaren, treffenden Worten, Luciens kritische Lage, seine Stellung im Hotel Grandlieu, sein schönes Leben im Falle des Triumphes und schließlich die Notwendigkeit auseinanderzusetzen, die Esther zwänge, sich dieser herrlichen Zukunft zu opfern.
    »Was muß ich tun?« rief sie voller Fanatismus. »Mir blind gehorchen,« sagte Carlos. »Und worüber könnten Sie sich beklagen? Es wird nur an Ihnen liegen, sich ein schönes Los zu schaffen. Sie werden das werden, was Tullia, Florine, Mariette und die Val-Noble, Ihre einstigen Freundinnen, sind: die Geliebte eines reichen Mannes, den Sie nicht lieben. Sind unsere Angelegenheiten einmal erledigt, so ist unser Verliebter reich genug, um auch Sie glücklich zu machen ...« »Glücklich! ...« sagte sie, indem sie die Augen gen Himmel hob. »Sie haben vier Jahre im Paradies gelebt,« fuhr er fort, »kann man nicht mit solchen Erinnerungen leben?« »Ich werde Ihnen gehorchen,« erwiderte sie, indem sie sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte. »Machen Sie sich um das übrige keine Sorge! Sie haben es gesagt, meine Liebe ist eine tödliche Krankheit.« »Das ist nicht alles,« fuhr Carlos fort: »Sie müssen schön bleiben. Mit zweiundzwanzig und einem halben Jahr stehen Sie dank Ihrem Glück auf dem Gipfel Ihrer Schönheit. Vor allem werden Sie wieder zur Torpille. Seien Sie schelmisch, verschwenderisch, erbarmungslos gegen den Millionär, den ich Ihnen ausliefere. Hören Sie an! ... Dieser Mensch ist ein Dieb der großen Geldbeutel; er ist gegen viele Leute mitleidslos gewesen, er hat sich gemästet mit dem Vermögen der Witwe und der Waise; Sie werden deren Rache sein! ... Asien wird kommen und Sie in einem Fiaker abholen; heute abend sind Sie in Paris. Wenn Sie erraten ließen, daß Sie vier Jahre mit Lucien gelebt haben, so könnten Sie ihm ebensogut eine Pistolenkugel in den Kopf jagen. Man wird Sie fragen, was Sie getrieben haben. Sie werden antworten: ein äußerst eifersüchtiger Engländer habe Sie mit auf Reisen genommen. Sie haben ehedem Geist genug gehabt, um zu schwindeln; haben Sie von neuem diesen Geist ...«
    Hat man je einen strahlenden Papierdrachen gesehen, jenen Giganten unter den Schmetterlingen der Jugend, wie er, ganz mit Gold beladen, in den Himmeln schwebte? ... Die Kinder vergessen einen Augenblick die Schnur, ein Vorübergehender schneidet sie ab: das Meteor ›schießt‹, in der Schülersprache, ›kopfüber‹ und stürzt mit erschreckender Geschwindigkeit ... So ging es Esther, als sie Carlos zuhörte.

Was alte Herren sich die Liebe kosten lassen
    Seit acht Tagen feilschte Nucingen fast täglich in dem Laden der Rue Neuve Saint-Marc um die Auslieferung derer, die er liebte. Dort thronte Asien bald unter dem Namen Saint-Estève, bald unter dem ihres Geschöpfes, der Frau Nourrisson, unter dem schönsten Putz, der jenen grauenhaften Zustand erreicht hatte, in dem Kleider keine Kleider mehr, aber auch noch keine Lumpen sind. Der Rahmen stand im Einklang mit der Figur, die diese Frau sich zulegte, denn solche Läden sind eine der unheimlichsten Eigentümlichkeiten von Paris. Man sieht dort den Nachlaß, den der Tod mit seiner entfleischten Hand dorthin geworfen hat, und man hört das Röcheln einer Schwindsucht unter dem Schal, wie man die Todesqual des Elends unter einem goldbeflitterten Kleide errät. Dort stehen die furchtbaren Debatten zwischen dem Luxus und dem Hunger auf leichten Spitzen geschrieben. Man sieht die Züge einer Königin unter einem federgeschmückten Turban; die Art, wie er sitzt, erinnert an das fehlende Gesicht und ergänzt es fast. Hier ist das Niedliche scheußlich. Die Geißel

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