Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Situationen auszutüfteln und Personen in Bewegung zu bringen. Man darf so wenig vom Baron von Nucingen in der Unterhaltung Geist verlangen, wie man die Bilder des Dichters im Begriffsvermögen des Mathematikers suchen darf. Wieviel Dichter trifft man in einer Epoche, die Prosaisten wären oder geistreich im Verkehr des Lebens wie Frau Cornuel? Buffon war schwerfällig, Newton hat nie geliebt, Byron hat kaum jemanden außer sich selbst geliebt, Rousseau war finster und fast wahnsinnig, Lafontaine war zerstreut. Gleichmäßig verteilt, schafft die menschliche Kraft nur Dummköpfe und die Mittelmäßigkeit; ungleich verteilt, erzeugt sie jene Mißverhältnisse, denen man den Namen des Genies gibt und die in der sichtbaren Welt Mißgestaltungen ergeben würden. Das gleiche Gesetz regiert den Körper: vollkommene Schönheit ist fast stets begleitet von Kälte oder Dummheit. Wenn Pascal zugleich ein großer Geometer und ein großer Schriftsteller war, wenn Beaumarchais einen großen Geschäftsmann abgab und Zamet einen gründlichen Hofmann, so bestätigen diese seltenen Ausnahmen das Prinzip der Spezialisierung der Intelligenzen. In der Sphäre der spekulativen Berechnungen entfaltet also der Bankier ebensoviel Geist, Geschicklichkeit, Feinheit und Begabung, wie ein geschickter Diplomat in der der nationalen Interessen. Wenn ein Bankier außerhalb seines Bureaus noch bemerkenswert wäre, so wäre er ein großer Mann. Nucingen multipliziert mit dem Fürsten von Ligne, mit Mazarin oder Diderot, das ist eine fast unmögliche Menschenformel, und doch hat sie sich Perikles, Aristoteles, Voltaire und Napoleon genannt. Der Glanz der Kaiserlichen Sonne darf dem Privatmann nicht unrecht tun; der Kaiser hatte Charme, er war gebildet und geistreich. Herr von Nucingen hatte wie die meisten Bankiers außerhalb seiner Berechnungen keinerlei Erfindungsgabe, und er glaubte nur an sichere Werte. In Dingen der Kunst war er verständig genug, sich mit dem Gold in der Hand an die verschiedenen Sachverständigen zu wenden: er nahm den besten Architekten, den besten Chirurgen, den größten Kenner der Malerei oder der Skulptur und den geschicktesten Anwalt, sobald es sich darum handelte, ein Haus zu bauen, seine Gesundheit zu überwachen oder Raritäten und ein Landgut zu erwerben. Aber da es keine vereidigten Sachverständigen für die Intrigen und keinen Kenner der Liebe gibt, so ist ein Bankier sehr übel beraten, wenn er liebt, und in der Manege der Frau ist er sehr unbeholfen. Nucingen fand also nichts Besseres, als was er bereits getan hatte: er gab irgendeinem männlichen oder weiblichen Frontin Geld, um an seiner Stelle zu handeln oder zu denken. Frau von Saint-Estève allein konnte das Mittel ausbeuten, das die Baronin gefunden hatte. Der Baron bereute bitter, sich mit der verhaßten Kleiderhändlerin überworfen zu haben. Da er aber auf den Magnetismus seiner Kasse und auf die Beruhigungsmittel, die die Unterschrift des Finanzministeriums trugen, vertraute, so schellte er trotzdem seinem Kammerdiener und befahl ihm, sich in der Rue Neuve Saint-Marc nach jener scheußlichen Witwe zu erkundigen und sie um ihren Besuch zu bitten. In Paris finden sich die Gegensätze durch die Leidenschaften. Das Laster lötet dort beständig den Reichen an den Armen, den Großen an den Kleinen. Die Kaiserin fragt Frau Lenormand um Rat. Und der große Herr findet dort von Jahrhundert zu Jahrhundert einen Ramponeau. [Fußnote: Berühmter Schankwirt des achtzehnten Jahrhunderts, im Faubourg Montmartre.]
Der neue Kammerdiener kam nach zwei Stunden zurück. »Herr Baron,« sagte er, »Frau von Saint-Estève ist ruiniert.« »Ah, um so pesser!« sagte der Baron freudig; »ich habe sie!« »Die gute Frau ist, wie es scheint, ein wenig Spielerin,« fuhr der Kammerdiener fort. »Obendrein steht sie unter der Herrschaft eines kleinen Schauspielers der Theater an der Bannmeile, den sie des Anstandes wegen als ihr Patenkind ausgibt. Es scheint, sie ist eine ausgezeichnete Köchin; sie sucht eine Stellung.« ›Diese verteifelten Subaldernschenies haben ßehn Arten, Keld ßu vertienen, aber ßwölf, um es ausßukeben,‹ sagte der Baron bei sich selber, ohne zu ahnen, daß er sich mit Panurg begegnete.
Er schickte seinen Diener von neuem auf die Suche nach Frau von Saint-Estève, die jedoch erst am folgenden Tage kam. Da Asien ihn ausfragte, so erzählte der neue Kammerdiener diesem weiblichen Spion, welche furchtbare Wirkung die von der Geliebten des Herrn Baron
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