Glanz
auf der anderen Flussseite wirkten auf einmal einladend. Ich hätte laut singen können vor Glück, doch meine anerzogene Zurückhaltung verbot es mir.
|45| Eigentlich hatte ich nicht damit gerechnet, dass sich Emily tatsächlich melden würde, doch nachdem ich ein Stück am Ufer entlang Richtung Süden gewandert war, klingelte mein Handy.
»Danke, dass du zurückrufst, Emily«, sagte ich. »Wie geht es dir?«
Sie schwieg einen Moment. »Was ist los?«
»Ich möchte es noch einmal probieren. Ein letztes Mal.«
»Nein.« Es klang endgültig. Ich begriff, dass sie mich nur zurückgerufen hatte, um mir das zu sagen: Ich konnte mit ihrer Hilfe nicht mehr rechnen. Sie hatte alles getan, was sie konnte. Ich sollte sie in Ruhe lassen.
»Emily, bitte! Ich weiß, dass wir ihn gemeinsam zurückholen können.«
»Wir beide haben nicht die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden, Anna. Manchmal muss man die Wahrheit akzeptieren. Manchmal muss man das, was man liebt, loslassen.«
Tränen schossen mir in die Augen. Die von der Kapsel ausgelöste Euphorie war wie weggeblasen. Die Vorstellung, Eric könnte sterben, presste die Luft aus meinen Lungen. »Verlangst du wirklich von mir, ihn aufzugeben? Er ist mein Sohn!«, schluchzte ich. »Wenn ich ihn verliere, dann … dann will ich auch sterben.«
»So etwas darfst du nicht sagen«, mahnte Emily, doch ihre Stimme war sanfter geworden. »Das Leben ist heilig. Man darf es nicht einfach wegwerfen!«
»Dann hilf mir, sein Leben zu retten!«
Emily schwieg einen Moment. »Also gut«, sagte sie schließlich. »Ein letztes Mal. Ich bin gegen achtzehn Uhr im Krankenhaus.«
»Danke, Emily. Vielen Dank.«
|46| Sie legte kommentarlos auf.
Pünktlich um sechs erschien sie. Ihr Gesicht wirkte grau und eingefallen. Ihre Augen waren nicht mehr blutunterlaufen, hatten jedoch eine kränklich gelbe Farbe. Sie musterte mich mit ausdruckslosem Blick. Ohne ein Wort zu sagen, setzte sie sich neben Erics Bett, ergriff seine rechte Hand und hielt mir die andere hin.
Ich nahm sie, und in der nächsten Sekunde stand ich dort.
|47| 6.
Ich sah mich um. Die Ebene erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Immer noch nahm ich die Welt nur durch jenen schwarzen Schleier wahr, doch das Gefühl, wirklich hier zu sein, war überwältigend.
Ich sah an mir herab. Statt Jeans und T-Shirt trug ich ein schwarzes, wallendes Gewand aus dünnem Stoff. Er streichelte sanft meine Haut, kitzelte an der Nase. Ich spürte groben Sand unter meinen nackten Füßen.
Ich hob eine Hand und hielt sie vor mein Gesicht. Dann griff ich unter das Kinn, hob eine Art Schleier an und schob ihn über den Kopf zurück. Ein leichter Wind wehte durch mein Haar und bewegte den dünnen Stoff des Gewands.
Die Welt sah so real aus, fühlte sich so
wirklich
an, dass ich nicht das Gefühl hatte, mich in einem Traum zu befinden, sondern zum ersten Mal in meinem Leben richtig wach zu sein.
Ein überwältigendes Gefühl durchdrang mich, eine Euphorie, die ich noch nie erlebt hatte. Ich war wirklich hier, in Erics Gedankenwelt! Ich würde seine Seele finden, und wenn ich bis ans Ende dieser traurigen, leeren Welt gehen musste!
Ich musste mich selbst loben für meine Idee, die Droge zu nehmen. Offensichtlich war sie der Schlüssel, der die Tür zur Gedankenwelt anderer Menschen aufschloss. Was für eine ungeheure Entdeckung! Psychologen wären mit Hilfe von »Glanz« und eines Mediums wie Emily in der Lage, die Gefühls- und Gedankenwelt von Geisteskranken |48| zu erforschen, oder die von Genies. Man würde die Geheimnisse des Verstandes auf ganz neue Art erkunden können. Für einen albernen Moment sah ich mich in einem festlich beleuchteten Saal in Stockholm, während der schwedische König mir die Nobelpreisurkunde überreichte.
Dann endlich setzte mein kritischer Verstand wieder ein und machte mir klar, dass es Dringenderes zu tun gab, als hier herumzustehen und sich lächerlichen Tagträumen hinzugeben. Ich mochte in Erics Geisteswelt eingedrungen sein, aber ich hatte ihn noch lange nicht aus dem Gefängnis seines Komas befreit. Die merkwürdige gute Laune und diese verdammte Überheblichkeit waren Nebenwirkungen der Glanz-Kapsel. Ich musste vorsichtiger sein.
Mir fiel auf, dass Emily nicht da war. Zumindest war sie nirgendwo zu sehen. Ich stand völlig allein auf der leeren Ebene. Kein Laut war zu hören.
»Emily?«, sagte ich. Und dann etwas lauter: »Emily!«
Die Euphorie, die ich eben noch gespürt hatte, fiel von mir ab
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