Glanz
gewesen waren. Aus den stechenden Schmerzen in meinen Füßen war ein dumpfes Pulsieren geworden. Ich seufzte, drehte mich auf die Seite und versuchte wieder einzuschlafen.
Ein leises Geräusch ließ mich hochfahren. Es hörte sich an wie das Flattern schwarzer Flügel.
So etwas wie ein Stromstoß durchfuhr mich. Starr vor Angst lauschte ich in die Dunkelheit, hörte aber nur das sanfte, beruhigende Konzert der Großstadt, das durch das halbgeöffnete Fenster hereindrang: das niemals nachlassende Rauschen des Verkehrs, gelegentlich unterbrochen von dem fernen Heulen einer Polizeisirene oder eines Krankenwagens.
Gerade als ich sicher war, mich getäuscht zu haben, hörte ich es erneut: ein leises Rascheln, verbunden mit einem kaum wahrnehmbaren Kratzgeräusch wie von scharfen Krallen auf Teppich. Ein Laut entfuhr meiner |58| Kehle, der wie das Wimmern eines Kätzchens klang. Ich streckte meine Hand nach dem Lichtschalter aus, zögerte einen Moment voller Angst vor dem, was mir die Nachttischlampe offenbaren würde, hielt den Atem an und schaltete sie ein.
Da waren keine schwarzen Vögel, die mich mit ihren kalten Augen anstarrten. Mein Schlafzimmer war so, wie es sein sollte: leer.
Erneut hörte ich das Rascheln. Die Ursache war der Vorhang am Fenster, der sich im lauen Nachtwind an einer Topfpflanze rieb.
Erleichterung durchflutete mich. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie stark die Erlebnisse in Erics Traumwelt mich berührten, wie sie mich durchdrangen und veränderten. Ich musste aufpassen, dass ich dabei keinen dauerhaften Schaden nahm.
Ich stand auf und schloss das Fenster. Es dauerte lange, bis ich wieder einschlafen konnte.
Gegen Mittag wurde ich vom Klingeln des Telefons geweckt. Ich nahm nicht ab, und mein Anrufbeantworter war nicht mehr in der Lage, noch mehr Nachrichten aufzuzeichnen. Umso besser.
Ich fühlte mich ausgeruht. Der Schmerz in meinen Füßen war kaum noch spürbar. Offensichtlich heilten psychosomatische Verletzungen schneller als physische.
Ich stand auf, streckte mich und zog die Vorhänge zur Seite. Der Himmel über New York war grau und konturlos wie der über der sandigen Ebene.
Ich duschte, machte mir einen Tee und aß zwei Toasts mit Erdnussbutter und Marmelade. Danach ging es mir besser. Ich steckte eine Glanz-Pille ein und fuhr ins Krankenhaus.
Eric lag genauso still da wie in den letzten Wochen. Ich |59| küsste ihn und strich sanft über seine Stirn, hinter der sich so viel mehr verbarg, als man äußerlich erkennen konnte. Trotz meiner beängstigenden Erlebnisse vom Vortag spürte ich so etwas wie Vorfreude bei dem Gedanken, in seine geheime Welt zurückzukehren.
Um halb sechs ging ich auf die Toilette, schob die Kapsel in den Mund und spülte sie mit etwas Wasser herunter.
Emily erschien pünktlich. Sie lächelte schwach. Im Gegensatz zu mir schien sie die Strapazen des vergangenen Tages weniger gut überwunden zu haben. Ihr Gesicht wirkte immer noch sehr blass, und sie erschien mir älter als ich sie in Erinnerung hatte. Gleichzeitig zauberte die Droge einen sanften, goldenen Schein um ihren Kopf, so dass sie etwas von einer Heiligen auf einem mittelalterlichen Bild ausstrahlte.
Ich umarmte sie. Dann setzten wir uns wieder neben Erics Bett.
Gerade als wir den Kreis unserer Hände schließen wollten, betrat Dr. Kaufman den Raum. »Sie?«, sagte er scharf. »Was machen Sie schon wieder hier?«
Emily erhob sich. Sie wirkte noch blasser, und ihre Unterlippe zitterte leicht. »Ich … es tut mir leid, aber …«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, ich will Sie nie wieder auf meiner Station sehen!«, fuhr der Chefarzt sie an.
Ich sprang auf. »Augenblick mal! Was fällt Ihnen ein? Mrs. Morrison ist auf meinen ausdrücklichen Wunsch hier!«
Dr. Kaufmans Gesicht war rot angelaufen. Er zeigte mit dem Finger auf Emily. »Die Frau ist eine Betrügerin! Ein Aasgeier! Sie lungert hier herum und erzählt den Angehörigen meiner Patienten irgendwelche Märchen. Hat sie Ihnen auch gesagt, sie könne die Seele Ihres Sohnes sehen, sogar mit ihr sprechen?«
|60| Ich wusste, dass es keinen Sinn hatte, dem Arzt die Wahrheit zu erklären. »Nein. Sie leistet mir einfach nur Beistand.« Mir kam eine Idee. »Wir sind beide ›Hüterin nen des Heiligen Sakraments vom Dritten Tage‹. Sie wollen uns doch nicht etwa an der Ausübung unseres Glaubens hindern?«
Das wirkte. Der Arzt durfte die verfassungsmäßig garantierte Religionsfreiheit nicht einschränken. »Tun Sie von mir aus, was Sie
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