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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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passierte, war, dass mein Tee langsam kalt wurde.
    Je länger ich so dasaß, desto sicherer war ich, dass ich nicht träumte. Und gleichzeitig war ich überzeugt, dass auch meine Erlebnisse in der Fresh-Pond-Klinik keine Einbildung gewesen waren.
    Ich versuchte, die Sache logisch anzugehen. Angenommen, beides war real – ich saß wirklich in meiner Küche und hatte tatsächlich noch vor ein paar Stunden in Cambridge gelegen, neben mir Eric, der gerade aus dem Koma erwacht war –, dann musste ich in bewusstlosem Zustand hierher nach New York gelangt sein. Das erschien absurd, aber es war immerhin möglich: Nachdem ich eingeschlafen war, hätte mich Dr. Ignacius ohne weiteres betäuben und in einem Krankenwagen hierherbringen können.
    Aber wozu?
    Es gab nur eine Erklärung: Der Arzt hatte mich die ganze Zeit belogen. Der Mummenschanz mit den Mönchen, das Gefasel vom wissenschaftlichen Beweis der Existenz der Seele waren nur Theater gewesen, ein Ablenkungsmanöver, um die wahren Absichten zu verschleiern. Ricarda Heller hatte recht gehabt: Eric war das Opfer einer gigantischen Verschwörung.
    Ricarda Heller. Die Schriftstellerin erschien mir wie ein fester Bezugspunkt im Strudel des Chaos, das mich umgab. Sie hatte mir eine Visitenkarte mit ihrer Adresse und Telefonnummer gegeben. Ich erinnerte mich, dass ich sie in die Hosentasche meiner Jeans gesteckt hatte.
    Ich ging ins Schlafzimmer. Meine Jeans hing ordentlich über einem Stuhl, als hätte ich sie vor dem Schlafengehen dorthin gelegt. Die Taschen waren leer.
    Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und startete meinen Laptop. Als Schriftstellerin hatte Ricarda Heller sicher eine eigene Website, und mit etwas Glück würde ich dort ihre Kontaktdaten finden.
    Ich gab den Namen bei Google ein. Fassungslos starrte ich auf das oberste Suchergebnis, einen Verweis auf eine aktuelle Nachricht: »Bekannte Schriftstellerin begeht Selbstmord.«
    Ich klickte den Link an und las die Meldung mit zugeschnürter Kehle. Ricarda Heller war vor zwei Tagen mit aufgeschlitzten Pulsadern in ihrer Badewanne gefunden worden, den Magen voller Schlafmittel. Ein Abschiedsbrief war nicht aufgetaucht, aber Zeugen berichteten von »merkwürdigem Verhalten« der Schriftstellerin, nachdem ihr Sohn gestorben war. Für die Polizei und die Medien war der Fall klar: Sie hatte den Tod ihres einzigen Kindes nicht verkraftet und ihrem Leben ein Ende gesetzt.
    Es erschien mir möglich, wenn nicht sogar wahrscheinlich, dass auch ich mit aufgeschnittenen Pulsadern in meiner Badewanne gefunden werden würde – nur, dass mein Tod kaum jemanden interessieren würde. Vermutlich konnte ich von Glück sagen, dass ich überhaupt noch lebte.
    Ich wählte Emilys Nummer, doch nur der Anrufbeantworter meldete sich. »Paul, wenn du da bist, ruf mich bitte dringend zurück«, sprach ich aufs Band. »Emily ist in großer Gefahr.« Ich rief auch die Wohngemeinschaft an, in der Maria lebte, erfuhr jedoch von einer müden und gereizten Mitbewohnerin nur, dass sie seit Tagen nicht dort gewesen war.
    Was sollte ich bloß machen? Ich hatte nicht den geringsten Beweis für eine Verschwörung. Ich wusste ja nicht mal, ob Eric noch lebte. Niemand würde mir meine Geschichte glauben. Wenn ich zur Polizei ging, würde man mich für verrückt halten. Mir blieb nur, so schnell wie möglich zurück nach Cambridge zu fahren und Eric zu suchen. Wahrscheinlich würde Dr. Ignacius bestreiten, meinen Sohn je in seiner Klinik gehabt zu haben. Gut möglich, dass er ihn längst fortgeschafft oder gar umgebracht und irgendwo verscharrt hatte.
    Der Gedanke drehte mir den Magen um. Verzweiflung übermannte mich, und ich musste mich auf dem Schreibtisch abstützen. Ich holte ein paar Mal tief Luft und ermahnte mich, nicht überstürzt zu handeln. Vielleicht verhielten sich die Dinge doch ganz anders, als ich sie jetzt sah.
    Nachdem ich wieder einigermaßen klar denken konnte, rief ich die Homepage der Fresh-Pond-Klinik auf. Es war eine typische Klinikwebsite, an der ich nichts Ungewöhnliches finden konnte. Wie Dr. Ignacius erläutert hatte, war die Klinik auf die Behandlung des Apallischen Syndroms spezialisiert, obwohl andere neurologische Befunde ebenfalls zu ihrem Aufgabengebiet gehörten. Auch ein Hinweis auf den Orden der Suchenden nach der Heiligen Wahrheit fand sich. Ein Link führte zu einer Website des Ordens. Die Geschichte der Bruderschaft, die dort veröffentlicht war, entsprach genau dem, was Dr. Ignacius mir erzählt hatte.

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