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Glanz

Glanz

Titel: Glanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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immer gerufen und bist von einem Bein auf das andere gehüpft, und als Dad und ich Tränen gelacht haben, warst du wütend auf uns. Dad sagte, du solltest ins Wasser gehen, doch du mochtest das Gefühl des Seetangs an deinen Füßen nicht und hattest Angst, ein Hummer könnte dir in die Zehen zwicken!«
    Eric schwieg. Er konnte sich offensichtlich nicht erinnern. Aber die Idee war vielleicht nicht schlecht, ihm Geschichten aus seinem wirklichen Leben zu erzählen. Möglicherweise würde seine Erinnerung irgendwann doch noch wiederkehren. Dann konnten wir die Abkürzung zum Tor des Lichts nehmen – indem er einfach die Augen aufschlug.
    Während wir durch die bizarre Landschaft liefen, erzählte ich ihm von dem verkohlten Thanksgiving-Truthahn, der beinahe einen Feuerwehrgroßeinsatz ausgelöst hatte. Ich schilderte das Weihnachtsfest, als Eric von seinen |70| beiden Großeltern und von Tante Paula drei Mal das gleiche Geschenk bekommen hatte: einen kleinen Dinosaurier, der sich bewegen und sprechen konnte und der gerade der Hit war bei den Grundschulkindern. Ich sprach sogar von Ralph, von dem Tag, an dem er ausgezogen war; als Eric stumm und mit glasigen Augen an der Tür gestanden und ihm nachgesehen hatte und wie er drei Tage lang kein einziges Wort geredet hatte.
    Während ich redete, rannen mir die Tränen über die Wangen. Eric hörte mir schweigend zu.
    »Du musst ihn sehr lieben, deinen Sohn«, sagte er irgendwann.
    Ich blieb stehen. Zorn stieg in mir auf. Ich konnte mich nur mühsam beherrschen, ihn nicht anzubrüllen. »Aber … aber du bist dieser Sohn«, sagte ich. »Du bist Eric!«
    Er sah mich an, und in seinen Augen lag echtes Bedauern. »Ich will deine Weisheit nicht anzweifeln, göttliche Mutter. Ich weiß nicht, welche Zauberei vielleicht über meinem Leben liegt. Aber ich erinnere mich an nichts von dem, was du erzählt hast. Ich weiß nichts von der Stadt Nujork mit Häusern, die bis in die Wolken reichen, von Zauberern und Spielzeugen, die sprechen können.« Er senkte den Blick. »Es … es tut mir leid, wenn ich nicht deinem Wunsch entspreche, göttliche Mutter.«
    Ich sah ihn an, und zum ersten Mal kamen mir Zweifel, ob der junge Mann hier tatsächlich Erics selbstgewählte Verkörperung war. Was, wenn ich mich irrte? Er war das einzige menschliche Wesen, dem ich bisher begegnet war. Aber diese Welt schien so groß und so real. War es nicht denkbar, dass sie von vielen Menschen bevölkert wurde? Wahrscheinlich gab es auch in dem Computerspiel, das die Vorlage für Erics Traumwelt war, eine Menge simulierter |71| Menschen; Statisten, die nur herumliefen, um den Eindruck einer bewohnten Welt zu vermitteln. Was, wenn dieser Iason neben mir nur ein solcher Statist war?
    Andererseits hatte Eric diese Welt geschaffen, also war Iason ein Produkt seiner Vorstellungskraft. Folglich waren sein Geist und Erics Geist identisch. So oder so hörte mein Sohn mir also zu.
    Dennoch war mir die Lust am Erzählen vergangen. Eine Weile wanderten wir schweigend weiter. Links von uns rauschte das Meer, rechts ragte die zerklüftete Steilküste auf. Außer dem gelegentlichen Rasseln einer Felsenspinne gab es keine Hinweise auf Leben.
     
    Während wir weitergingen, veränderte sich die Landschaft allmählich. Die Steilküste wurde flacher und zog sich vom Meer zurück, so dass der sandige Uferstreifen immer breiter wurde. Wir folgten ihrer Linie landeinwärts.
    Bald sahen wir in der Ferne eine Kette von flachen Hügeln. Sie waren von dünnem, hartem Gras bewachsen, den ersten Anzeichen von Vegetation. Das hätte mich mit Zuversicht erfüllen können, wenn nicht dieser unangenehme Geruch von Fäulnis gewesen wäre, der uns entgegenwehte. Auch mein griechischer Held schien ihn wahrzunehmen, denn er runzelte die Stirn und rümpfte die Nase, sagte jedoch nichts.
    Als wir die Kuppe eines Hügels erreichten, sahen wir eine Ebene, die sich bis zum Horizont erstreckte. Es schien sich um eine Art Sumpflandschaft zu handeln, denn zwischen flachen Büschen und den Skeletten niedriger Bäume glänzten schwarze Tümpel wie die tausend Augen eines in die Erde eingegrabenen Ungeheuers. Dazwischen erhoben sich hin und wieder merkwürdige blasse Gebilde, die aus Ketten von Gasblasen zu bestehen |72| schienen und sich leicht im Wind hin und her bewegten. Dünne Nebelfetzen wehten über das Land wie Gespenster. Ein entsetzlicher Gestank stieg von dort auf.
    Ich mochte diese Landschaft, die von einer schrecklichen Krankheit befallen

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