Glanz
Blick in seine leeren Augen. Für einen Moment glaubte ich, tief in der Dunkelheit seiner Pupillen eine graue Ebene zu erkennen, doch es war sicher nur ein Lichtreflex. »Eric!«, flüsterte ich. »Ich weiß, dass du mich hören kannst. Warte auf mich. Ich komme dich holen. Ich werde dich finden und zum Licht führen, das verspreche ich dir!«
»Guten Morgen«, sagte Emily. Sie stand in der Tür. Die schreckliche Auszehrung ihres Körpers war vollständig verschwunden, doch ihr Gesicht wirkte ernst.
»Guten Morgen!« Ich streckte mich genüsslich. »Ich habe ziemlichen Hunger! Wollen wir frühstücken?«
Emily nickte. »Okay.«
Ich folgte ihr in die Küche. Der Tisch war bereits für zwei Personen gedeckt. »Wo sind Paul und Maria?«, fragte ich.
|162| »Paul ist zur Arbeit, Maria einkaufen.« Sie setzte sich an den Tisch und schenkte uns beiden Kaffee ein.
So einsilbig kannte ich sie nicht. »Ist irgendwas?«, fragte ich.
Sie antwortete nicht gleich, so als müsse sie überlegen, wie sie mir eine schlimme Nachricht schonend beibringen konnte. »Ich … mache mir Sorgen«, sagte sie schließlich.
»Was für Sorgen?«
»Der brennende Mann … diese traurige Königin, die so aussieht wie du … das macht mir Angst.«
Ich kämpfte einen leichten Anfall von Übelkeit nieder und rang mir ein Lächeln ab. »Verstehst du denn nicht, was das bedeutet? Eric kann mich sehen! Er hat mich in seine Traumwelt eingebaut – mein trauriges Ich, so, wie ich nach dem … Unfall … war. Das heißt, er muss mich trotz des Komas zumindest manchmal wahrnehmen können!«
Emily schüttelte langsam den Kopf, den Blick auf ihren Kaffeebecher gerichtet. »Das ist nur eine mögliche Erklärung.«
Ich sah sie überrascht an. »Welche gibt es denn noch?«
Anstatt zu antworten, stand Emily auf und verschwand aus der Küche. Kurz darauf kam sie mit einem großen Zeichenblock, einem Aquarellfarbkasten und einem Pinsel wieder. Sie füllte etwas Wasser in ein Glas, tunkte den Pinsel hinein und befeuchtete großzügig das Papier. Dann nahm sie etwas blaue Farbe aus einem der winzigen Näpfe und führte den Pinsel leicht über das Blatt. Eine erstaunlich kräftige, s-förmig geschwungene Linie erschien, die jedoch sofort ausfranste und breiter wurde. Fasziniert sah ich ihr zu. Die Art, wie sie den Pinsel führte, verriet, dass sie eine gute Malerin war.
»Das ist Erics Seele«, erklärte sie. Dann wusch sie den Pinsel im Glas, so dass sich das Wasser augenblicklich tiefblau |163| färbte, und nahm etwas Orangerot aus dem Aquarellkasten auf. »Und das deine.« Sie setzte den Pinsel in der Nähe der blauen Linie auf, wartete eine Sekunde, bis sich ein dicker, kräftig leuchtender Fleck gebildet hatte, und führte die Linie dann spiralförmig um den Klecks in der Mitte herum. An einer Stelle berührte die Spirale beinahe die blaue Linie. Das Orangerot breitete sich aus und begann, das Blau zu durchdringen. An der Stelle, wo sich die beiden Linien trafen, bildete sich ein ziemlich hässlicher Fleck, der die grauviolette Farbe einer Prellung annahm.
»Du meinst, unsere Seelen durchdringen sich? Aber was ist so schlimm daran? Er ist doch mein Sohn!«
»Ich male seit vielen Jahren«, sagte Emily. »Früher habe ich Öl- und Acrylfarben benutzt. Damit kann man sehr präzise arbeiten und Fehler jederzeit korrigieren, indem man sie einfach übermalt. Irgendwann habe ich dann die Aquarellmalerei entdeckt. Anfangs war ich frustriert, weil es so schwierig ist. Denn in einem Aquarell kann man nichts korrigieren. Jeder Pinselstrich muss sitzen. Wenn die Farben ineinander verlaufen, gibt es nichts auf der Welt, das sie wieder trennen kann. Ein falscher Strich ruiniert das ganze Bild.«
»Ich verstehe immer noch nicht, was daran so schlimm sein soll, dass unsere Seelen sich durchdringen. Wenn es wirklich so ist.«
Emily musterte mich mit ihren intensiven dunklen Augen, und ich kam mir plötzlich naiv und ahnungslos vor. »Was, wenn die Bilder, die du gesehen hast, nicht Erics Phantasie entspringen, sondern deiner?«, fragte sie.
»Du … du meinst, ich selbst hätte mein Ebenbild irgendwie in seine Welt hineinprojiziert? Das … das ist doch Blödsinn!« Ich sagte das mehr aus Trotz als aus echter |164| Überzeugung. Ich war noch gar nicht auf die Idee gekommen, dass meine Anwesenheit in Erics Traumwelt diese verändern könnte. Aber bei näherer Betrachtung war das nur logisch – schließlich handelte ich in dieser Welt, und diese Handlungen hatten
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