Glanz
mit Nahrung und Flüssigkeit versorgt. In ihren Augen lag ein stummer Vorwurf, als sie mich ansah, doch sie erhob keinen Widerspruch, als Emily und ich uns schließlich neben meinen Sohn legten, sondern verließ nur stumm den Raum. Ich blickte ihr nach, erfüllt von Dankbarkeit und Sorge, die allmählich von der falschen Euphorie der Droge verdrängt wurde.
Emily nahm meine Hand. Ich schloss die Augen.
|170| 19.
Ein verlockender Duft stieg mir in die Nase. Ich schlug die Augen auf.
Der alte Bauer hielt mir eine Schale mit dampfender Suppe hin. »Sie ist nicht sehr kräftig, aber ich hoffe, es stärkt dich dennoch!«
Ich nahm die Schale. »Ich danke dir!«
Der Eintopf war in der Tat wässrig. Ein paar zähe Stücke von irgendeiner Frucht oder einem Pilz schwammen darin, und nur wenige Fettaugen bedeckten die Oberfläche. Dennoch aß ich mit Heißhunger, als hätte ich nicht eben noch appetitlos in Emilys Küche gesessen und gefrühstückt.
»Leider habe ich nichts, was ich dir für deine Gastfreundschaft geben kann«, sagte ich, nachdem ich die Schale geleert hatte.
»Was für eine Gastfreundschaft wäre das, wenn ich etwas dafür verlangen würde?«, fragte der Alte. »Du erinnerst mich an meine Tochter, Graisa. Sie war fast so schön wie du.«
»Was ist mit ihr geschehen?«
»Wie ich schon sagte, sie wurde krank. Das war kurz nachdem die schwarzen Vögel das erste Mal über das Land herfielen. Viele sagen, die Berührung ihrer Federn könne Krankheiten verursachen. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber ich konnte sehen, wie Graisa und meine Frau Zala immer schwächer wurden. Sie aßen – damals hatten wir noch zu essen –, doch sie wurden immer dünner, und ihre Haut wurde grau wie der Staub vor dem |171| Haus. Irgendwann sind sie eingeschlafen. Lange lagen sie da und schliefen. Ich habe alles versucht, um sie zu wecken, aber egal, was ich tat, sie schlugen die Augen nicht mehr auf.« Tränen rannen über das alte, runzlige Gesicht. »Als du so lange schliefst, dachte ich schon, auch du hättest diese Krankheit bekommen.«
»Wie lange habe ich denn geschlafen?«
»Eine Nacht, einen Tag und dann noch einmal fast die ganze Nacht.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass kein Licht durch die Vorhänge fiel. Bisher hatte es in Erics Traumwelt keinen Wechsel von Tag und Nacht gegeben. Hatte das etwas zu bedeuten? Ich stand auf und blickte aus dem Fenster. Die leblosen Felder leuchteten blass im Licht des zu drei Vierteln vollen Mondes. Es schien derselbe zu sein, der über Manhattan schien. Die Sterne wirkten ebenfalls vertraut. Ich fand den Großen und den Kleinen Wagen – die einzigen Sternbilder, die ich auf Anhieb zu identifizieren vermochte.
Der vertraute Anblick des Himmels hatte etwas Beruhigendes und gleichzeitig Erschreckendes. Es schien, als sei Erics Welt ein bisschen realer geworden, ein bisschen weniger Traum. Ich wusste nicht, ob mir das gefiel.
Ich überlegte, wohin ich mich wenden sollte. Niemand hier schien den Tempel der Wahrheit zu kennen. Ich war aus ihm herausgetreten und hatte mich plötzlich mitten in der Stadt des Lächelns befunden. Bedeutete das, dass sich der Tempel in einer Art fremder Dimension befand, in einer anderen Ebene der Traumrealität? Wie sollte ich dann jemals dorthin zurückgelangen?
Andererseits verliefen Träume nicht linear, und erst recht nicht nach den strengen Gesetzen der Logik. Ich musste darauf vertrauen, dass Erics Seele mir irgendwie |172| von sich aus Hinweise geben würde, wo ich sie finden konnte. Und der einzige Anhaltspunkt, den ich bisher hatte, war die Tatsache, dass Eric in dieser Welt ein Soldat war.
»Du hast … neulich von einem Krieg gesprochen«, sagte ich. »Wo ist das Schlachtfeld?«
Der Alte wies aus dem Fenster, wo sich am Horizont ein blassgelber Streifen zeigte. »Im Osten. Dorthin sind die Soldaten der Königin gezogen. Doch von dort ist nie jemand zurückgekehrt.«
»Wie weit ist es bis dort?«
»Du willst doch nicht etwa da hingehen?«
»Ich muss meinen Sohn finden.«
»Wenn er dort ist, dann ist er vermutlich längst tot.«
»Er ist nicht tot! Noch nicht.«
Er zuckte mit den Schultern. »Wenn du es sagst.«
Ich dankte dem Alten für seine Gastfreundschaft und machte mich auf den Weg, noch bevor der Tag anbrach. Die Straße vor seinem Haus führte schnurgerade in Richtung des Sonnenaufgangs, zwischen verdorrten Äckern und den kümmerlichen Resten von Obstbäumen hindurch. Der Alte hatte mir einen Beutel mit einem Schlauch voller
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