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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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erinnern. Denn andernfalls könnten sie den Vektor deiner Erfahrungen zerlegen und dich als Bedrohung ausmachen.
    »Heute Morgen geht es ihr wirklich schlecht. Die Gegenmittel haben gewirkt - die Infektion klingt eindeutig ab -, aber in diesem Zustand ist mit ihr nichts anzufangen.«
    »Was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Es besteht die Gefahr, dass sie in eine regelrechte progressive Amnesie fällt …«
    Während ich meinen Degen aus seinen Gedärmen ziehe, steigt aus seinen Eingeweiden ein derart entsetzlicher Gestank auf, dass es mir den Atem verschlägt. Er liegt in einer Duellzone zwischen Rosenbüschen, beschattet von einer Marmorstatue, die ein ausgestorbenes fliegendes Säugetier darstellt. Plötzlich packt mich Entsetzen, denn das hier ist ein Mann, den ich hätte lieben können.
    »Machen Sie Reeve wieder gesund.«
    »Das kann ich nicht! Nicht ohne Reeves Zustimmung.«
    Die Hand krampft sich so fest um irgendein Handgelenk, bis es fast wehtut. »Dazu ist sie doch gar nicht in der Lage. Sehen Sie sich das an: Was machen Sie, falls sie Krämpfe bekommt?«
    Ich bin wieder ein Panzer, wate mit meinen bleibeschwerten Füßen durch einen Pfuhl unsäglicher Gräuel, in Pfützen voller Blut. Erneut schlage ich mit dem Schwert zu und durchtrenne den Hals einer schreienden Frau, während zwei andere Verkörperungen von mir sie niederdrücken.
    Ich fliege, stürze trotz der Flügel Hals über Kopf nach unten. Ein stechender Schmerz in meinem Daumen verrät mir, dass ein Knochen gebrochen ist. Ich kann das frische Wasser des laut rauschenden Wasserfalls unter mir riechen.
    »Sorgen Sie dafür, dass es aufhört«, höre ich jemanden murmeln. Auf meinen Lippen ist Blut, denn ich habe sie an einer Stelle fast durchgebissen. Ich bin es, die von den Panzern niedergedrückt wird. Vor mir steht eine Frau mit glühenden Augen und hinter ihr ein Mann, der mich liebt, nur kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern.
    Erneut beißen die Schlangen zu und schlagen ihre Zähne tief in mein Fleisch, und die Sonne verdunkelt sich.

    RESTART:
    Ich merke, dass jemand meine rechte Hand hält.
    Später - wann, weiß ich nicht, denn das Zeitgefühl ist mir abhanden gekommen - fällt mir auf, dass er immer noch meine Hand hält. Was darauf schließen lässt, dass er sehr viel Geduld hat, denn ich liege nach wie vor im Bett, und jetzt ist es sehr hell. »Wie spät ist es?«, frage ich mit leichter Panik, denn ich muss zur Arbeit.
    »Sch. Ungefähr Mittag. Es ist alles in Ordnung.«
    »Wenn alles in Ordnung ist«, Sam drückt meine Hand, »wieso sitzt du dann hier? Wie lange schon?«
    »Nicht lange.«
    Ich öffne die Augen und sehe ihn an. Er sitzt auf dem Hocker neben meinem Bett. Ich verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse, einem Lächeln oder was auch immer. »Lügner.«
    Er reagiert zwar weder mit einem Lächeln noch mit einem Nicken, doch die Spannung sickert wie Wasser aus ihm heraus. Während sie von ihm weicht, sinkt er in sich zusammen. »Reeve? Kannst du dich erinnern?«
    Ich blinzele hastig, um ein Staubkörnchen aus dem linken Augenwinkel zu entfernen. Kann ich mich erinnern? »Ich erinnere mich an vieles«, erwidere ich. Wie viele dieser Erinnerungen echt sind, ist eine andere Frage. Ich bekomme ja schon Kopfweh, wenn ich sie zu sortieren versuche! Ich bin ein Panzer, ein zügelloser junger Mann mit Todessehnsucht, biologisch so ausgestattet, dass ich fliegen kann. Vielleicht bin ich aber auch nur ein armseliger, spielsüchtiger Mensch. Oder ein sorgfältig getarnter Geheimagent. Allerdings kommen mir all diese Möglichkeiten sehr viel absurder und weniger plausibel vor als das, was alles ringsum zu besagen scheint: dass ich eine Kleinstadt-Bibliothekarin bin, die einen Nervenzusammenbruch hatte. Ich beschließe, mich für den Augenblick an diese Version zu halten, und umklammere Sams Hand wie eine Ertrinkende. »Wie schlimm war’s denn?«
    »Ach, Reeve, es war wirklich schlimm.« Als er sich über mich beugt und mich umarmt, erwidere ich die Umarmung so fest ich kann. »Schlimmer hätt’s kaum sein können.« Er zittert ja, stelle ich mit wachsendem Schrecken fest. So sehr liege ich ihm am Herzen? »Ich hatte schon Angst, ich würde dich verlieren.«
    Ich schmiege mich an seinen Hals. »Das wäre schlimm.« Jetzt schaudert es mich meinerseits, so sehr entsetzt mich der Gedanke, ich hätte ihn verlieren können. Irgendwann in der vergangenen Woche ist Sam zum Rettungsanker in den aufgewühlten Fluten meiner Identitätskrise,

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