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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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aus den Augenwinkeln heraus niemals richtig gesehen habe. Es kommt mir so vor, als wäre ich mit Blindheit geschlagen. Aber nicht mit einer Blindheit der Augen, sondern einer der primären Sehrinde - mit diesem seltsamen neurologischen Trauma, dessen Opfer zwar nichts mehr sehen, aber das Geschehen in ihrem Blickfeld erahnen oder erraten können. Vielleicht bin ich ja wirklich ein Geheimdienstagent, der ein Nest gefährlicher Gegner auszuheben versucht … Oder aber ich bin eine arme kranke Frau, die früher das wirkliche Leben durch Spiele ersetzt hat und jetzt den Preis dafür bezahlt.
    Während ich hellwach im Dämmerlicht liege, fällt mir irgendwann auf, dass der Schüttelfrost sich gelegt hat. Zwar tut mir alles weh, und ich fühle mich schwach, aber das ist nach der langen Klettertour ja auch nicht anders zu erwarten. Während ich so daliege, werden mir die kaum merklichen Geräusche auf der Krankenstation bewusst: das leise weiße Rauschen der Klimaanlage, das Ticken einer Uhr, das verhaltene Schluchzen von …
    Schluchzen?
    Ich fahre so schnell hoch, dass Decke und Laken von mir heruntergleiten. Während meine Gedanken rasen, spüre ich gleichzeitig ein Gefühl der Angst und rätselhafte Erleichterung. Ich habe Cass tatsächlich gerettet. - Wenn Cass hier liegt, ist alles, an das ich mich in diesem Zusammenhang erinnere, wirklich geschehen. - Muss aber nicht heißen, dass auch alles andere wirklich passiert ist. - Falls es wirklich geschehen ist, muss Cass …
    »Mist«, höre ich mich murmeln, während ich das Bettzeug wieder hochziehe und mich wie ein verängstigtes Kind daran festhalte. »Ich komme damit nicht klar.« Am liebsten würde ich jetzt am Daumen lutschen. »Ich bin noch nicht so weit«, sage ich so leise, dass kein Laut zu hören ist. Ich muss leise reden, wenn ich mir selbst die Wahrheit sage, denn die Wahrheit ist peinlich und tut weh. Blitzartig fällt mir ein, was Hanta gesagt hat: Sobald es Cass besser geht, werde ich sie fragen, welche Identität sie annehmen
    möchte. Und das tröstet mich, denn etwas Besseres könnte ich selbst Cass auf keinen Fall anbieten. Hat Hanta vor, einen gezielten Eingriff in Cass’ Erinnerungen anzuordnen?, überlege ich. Es würde mich sehr wundern, wäre an diesem Projekt kein voll ausgebildeter Chirurg und Beichtvater beteiligt - schließlich ist das in Anbetracht der kleinen ethischen Verirrungen, die in einem solchen experimentellen Gemeinwesen zu erwarten sind, die wirksamste Vorsichtsmaßnahme. ( Oder auch in Anbetracht der kleinen Unannehmlichkeiten, die einer geheimen militärischen Einrichtung im Falle der Infiltration entstehen könnten, fügt ein verlogener, zynischer Teil von mir hinzu, dem ich nicht mehr ganz zu trauen vermag.)
    Ich lege mich wieder hin. Das Schluchzen hält noch eine Zeit lang an, bis ich die klappernden Absätze eines Pflege-Zombies höre, der sich dem Bett hinten im Raum nähert. Stimmengemurmel, ein Seufzer, danach Schnarchgeräusche. Die Schwester bleibt wie ein weißes Gespenst am Fußteil meines Bettes stehen, sodass ihr Gesicht nur als halbdunkles Oval zu sehen ist. »Brauchen Sie noch irgendetwas?«, fragt sie.
    Ich schüttle den Kopf. Das ist zwar gelogen, aber das, was ich brauche, können sie mir hier nicht geben.
    Irgendwann döse ich ein.

15
    die genesung
     
     
     
    DER NÄCHSTE MORGEN FÄNGT SCHLECHT AN: Wie eine zerschellende Vase zerbricht er in einzelne Fragmente.
    »Weitere Aussetzer, Reeve. Es wird immer schlimmer mit dir.«
    Seine große Hand umschließt meine kleine - eine schwache, blutleere Hand. Mit dem Daumen streicht er über mein Handgelenk. Als ich ihm in die Augen sehe, entdecke ich dort Traurigkeit und frage mich, wieso …
    Zwei Schlangenköpfe aus Flüssigmetall beißen mir ins Handgelenk, sodass ich aufschreie und mich ihnen entziehen will, während sie mir Beruhigungs- und Betäubungsmittel injizieren. Die Frau, die diese Schlangen mitgebracht hat, ist eine Göttin mit goldener Haut und glühenden Augen.
    Ich bin wieder ein Panzer, ein ganzes Panzerbataillon, und falle durch die eisige Nacht auf ein feindliches Habitat zu - oder kam das erst später? Ich löse mich vom Interface zur virtuellen Realität, schüttle den Kopf, sehe mich in der Arkade des Spiels nach meinen Mitspielern um und höre mich flüstern: »Aber so war es doch gar nicht …«
    Ein geschnitzter Gänsekiel kratzt über raues Papier, nein, der Kiel stammt aus einem menschlichen Knochen. Anfangs wirst du dich an nichts

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