Glashaus
erkennbaren Grund. Dasselbe passierte mit ihren Audio-Aufzeichnungen und den Texten. Es ist wirklich eine Ironie des Schicksals, dass wir heute viel mehr über die Kultur am Anfang der dunklen Epoche wissen - ich meine die Jahre um 1950 alter Zeitrechnung - als über die Kultur am Ende dieser Epoche, um das Jahr 2040 herum.«
Fiore hält inne, denn hinter mir sind leise Unterhaltungen im Gange. Er wirkt leicht verärgert, vermutlich deswegen, weil die Leute nicht an seinen Lippen hängen. Ich dagegen bin von seinem Vortrag gefesselt, aber ich war früher ja auch selbst Historiker, wenn ich auch auf einem ganz anderen Gebiet geforscht habe.
»Darf ich jetzt fortfahren?«, fragt Fiore spitz und wirft einer Frau in der Reihe hinter mir einen bösen Blick zu.
»Nur, wenn Sie uns verraten, was das mit uns zu tun hat«, erwidert sie dreist.
»Ich werde …« Fiore führt den Satz nicht zu Ende, sondern holt tief Luft und wirft die Schultern zurück. »Sie werden in der dunklen Epoche leben, und zwar in einer simulierten euromerikanischen Zivilisation, wie sie zwischen 1950 und 2040 existiert hat«, blafft er die Frau an. »Ich bemühe mich gerade , Ihnen zu verdeutlichen, dass diese Simulation die beste Rekonstruktion der damaligen Umwelt darstellt, die uns aufgrund der Quellenlage zugänglich ist. Es handelt sich um ein Experiment, in das die Versuchspersonen in psychischer und sozialer Hinsicht buchstäblich eintauchen. Und das bedeutet, dass wir beobachten werden, wie Sie miteinander interagieren. Sie bekommen Punkte für rollengerechtes Verhalten, das heißt: wenn Sie sich an die Grundregeln der Gesellschaft halten. Und wir ziehen Ihnen Punkte ab, wenn Sie aus Ihrer Rolle fallen.«
Ich setze mich auf.
»Ihr persönlicher Punktestand hat auch Auswirkungen auf die Gruppe, und das bedeutet: auf jeden. Ihre Schar - sie umfasst zehn Personen und ist eine der zwanzig Gruppen, die wir innerhalb der nächsten fünf Megs in diesen Teil des Gemeinwesens einweisen - wird sich einmal in der Woche, sonntags, in einem Gemeindezentrum namens Kirche der Nazarener treffen. Dort können Sie alles erörtern, was Sie erfahren und erlebt haben. Damit die Simulation besser funktioniert, gibt es hier viele Figuren, die keine Mitspieler, sondern vom Spielleiter eingesetzte Zombies sind. Einen Großteil der Zeit werden Sie eher mit diesen Zombies als mit anderen Versuchspersonen zu tun haben. Die Szenerie hier besteht aus einzelnen Habitatbezirken, die durch Tore so miteinander verbunden sind, dass sie wie ein einziges geografisches Kontinuum erscheinen, nicht anders als die Oberfläche eines Planeten.« Inzwischen hat er sich ein wenig beruhigt. »Noch Fragen?«
»Und worin bestehen die gesellschaftlichen Grundregeln?«, fragt ein Mann in der letzten Reihe, offenbar leicht verwirrt. Er hat dunkle Haut und trägt einen leichten Anzug.
»Das werden Sie schon noch herausfinden. Die Regeln ergeben sich vor allem aus den Beschränkungen, die diese Umwelt Ihnen auferlegt. Wenn Sie Informationen darüber benötigen, werden wir sie Ihnen über Ihre Netzverbindung oder einen der Zombies übermitteln.« Jetzt klingt Fiore noch blasierter.
»Und was sollen wir hier tun?«, fragt die Rothaarige neben mir. Sie klingt so, als wäre sie auf der Hut, wenn auch nicht klar ist, vor wem oder was. »Ich meine, abgesehen davon, dass wir uns ›an die Regeln halten‹ sollen. Hundert Megs ist ganz schön lange, stimmt’s?«
»An die Regeln halten.« Fiore lächelt verkniffen. »Die Gesellschaft, in der Sie leben werden, hat großen Wert auf Formalitäten und Rituale gelegt. Es wurde sehr auf die persönlichen Beziehungen geachtet, und der gesellschaftliche Status hing häufig von der zufälligen genetischen Ausstattung ab. Das wichtigste Element in dieser Gesellschaft ist etwas, das man als Kernfamilie bezeichnet. Es ist eine komplexe Struktur, die auf dem engen Zusammenleben eines Mannes und einer Frau basiert. Üblicherweise beschäftigt sich einer von beiden mit einer Arbeit, die sich von Tag zu Tag nahezu wiederholt, und verdient den Lebensunterhalt damit, während der andere Teil sich um die sozialen und häuslichen Pflichten und die Aufzucht der Kinder kümmert.
Wir erwarten von Ihnen, dass Sie sich in diese Struktur einfügen, wenngleich die Aufzucht von Kindern Ihnen freigestellt ist, wie sich von selbst versteht. Uns geht es darum, die Stabilität solcher Beziehungen zu untersuchen. Sie werden feststellen, dass auf Ihren Slates mehrere
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