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Glashaus

Titel: Glashaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Zeitbombe ich da vor einer halben Woche ganz beiläufig bei Käse und Wein aufgelesen habe.
    Es vergeht fast eine Minute des Schweigens, bis er fortfährt. »Es ist vorbei«, seufzt er. »All das liegt in der Vergangenheit, und ich erinnere mich nicht mehr allzu deutlich daran. Meine Erinnerungen wurden nicht komplett entfernt, nur so weit, dass sich eine Nebelschicht darüber gelegt hat. Damit ich ein neues Leben aufbauen konnte.« Er sieht mich an. »Kennst du das?«
    Kenne ich was?, frage ich mich alarmiert. Doch gleich darauf verstehe ich, was er mich fragen will.
    »Ich hab auch so einen Eingriff hinter mir«, erwidere ich bedächtig. »Aber bei mir war es nicht das erste Mal. Und es war gründlich. Ich habe …« Ich schlucke. »Ich musste eine Autobiografie durchlesen, die ich für mich selbst verfasst hatte.«
    Habe ich gelogen, als ich sie schrieb? Hat dieses andere Selbst die Wahrheit gesagt oder nur ein hübsches Lügengespinst für den Fremden ersonnen, in den es sich zwangsläufig verwandeln würde?
    »In dieser Autobiografie stand, dass ich früher eine langfristige Bindung eingegangen bin. Mit drei Partnern und sechs Kindern. Sie hat mehr als eine Gigasekunde gehalten.« Während ich über das Nächste, was ich sagen will, nachdenke, fühle ich mich fix und fertig. »Aber ich kann mich nicht mehr an ihre Gesichter erinnern, an keines der Gesichter.«
    In Wirklichkeit erinnere ich mich überhaupt nicht mehr daran. Es hätte genauso gut einem anderen passiert sein können. Was genau dem entspricht, was meine Autobiografie besagt. Die ganze Sache war vor mehr als vier Gigasekunden zu Ende - vor mehr als hundertzwanzig Jahren -, und das erste Reset meines Gedächtnisspeichers erfolgte kurz danach. Der jüngste Eingriff in meine Erinnerungen war viel gründlicher. Mehr als dreißig Jahre lang haben mir diese drei Partner und sechs Kinder mehr bedeutet als … nun ja, als alles andere. Aber heute liefern sie nur noch die Hintergrundschraffierungen meiner Lebensgeschichte - wie trockene Zusammenfassungen, die die vorfabrizierte Geschichte eines »Schläfers« glaubwürdig machen sollen, ehe der Agent in ein ausländisches Gemeinwesen eingeschleust wird.
    Sam greift fester nach meiner Hand. »Ich hab mich dem Eingriff unterzogen, um den Kummer loszuwerden. Und als ich die Operation hinter mir hatte, musste ich feststellen, dass ich sie vermutlich gar nicht nötig gehabt hätte. Schmerz ist ein Stimulus, ein Signal, das der Organismus braucht, um irgendein Ausweichmanöver einzuleiten, stimmt’s? Ich meine nicht den chronischen Schmerz, der durch Nervenschäden ausgelöst wird, sondern den ganz alltäglichen. Und den emotionalen Schmerz. Man muss was dagegen tun und darf ihm nicht ausweichen. Später spürte ich ihn nur noch sehr schwach, aber ich fühlte mich innerlich leer. So wie ein halber Mensch. Und mir war auch nicht mehr klar, wer ich eigentlich bin.«
    Ich streichle seine Hand. »War es dieser dissoziative psychopathologische Zustand, der so oft auf den Eingriff folgt? Oder ging es tiefer?«
    »Tiefer.« Er klingt geistesabwesend. »Ich hatte eine solche Leere in mir, dass ich … Nun ja, ich habe den Fehler gemacht, mich wieder zu verlieben. Allzu schnell. In jemanden, der brillant, schnell, witzig und wahrscheinlich völlig verrückt war. Er/sie - spielt ja keine Rolle, wer es war - fragte mich auch nach dem Experiment, und zwar zu einem Zeitpunkt, als es mir schlecht ging und ich gerade herauszufinden versuchte, ob ich wirklich verliebt war oder mir selbst nur was vormachte. Wir sprachen über das Experiment, aber ich glaube, er/sie war nicht sonderlich scharf darauf. Und am Ende wurde mir das alles zu viel: Ich meldete mich freiwillig, legte ein Back-up an und wachte hier drinnen auf.« Er sieht mich unglücklich an. »Ich hab einen Fehler gemacht.«
    »Wie bitte?« Ich starre ihn an, nicht sicher, was ich davon halten soll.
    »Ist ja nicht so, dass ich keinen Sex mag«, sagt er entschuldigend. »Aber ich bin in jemand anderen verliebt. Und werde ihn/sie nicht sehen, bis …« Er schüttelt den Kopf. »Also gut, jetzt ist es heraus. Bestimmt hältst du mich jetzt für einen richtigen Schwachkopf.«
    »Nein.« In Wirklichkeit denke ich im Moment nur daran, dass ich Cass - Kay - vor diesem Arschloch retten muss, der sie gefangen hält. »Ich halte dich nicht für einen Idioten, Sam«, höre ich mich sagen. Als ich mich zur Seite beuge und ihn mit freundschaftlicher Vertrautheit auf die Wange küsse,

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