Glashaus
werde ich Hochwürden seinen Kaffee verabreichen.«
»Verabreichen …« Sie macht große Augen. »Verstehe.« Gleich darauf nimmt sie ihre Jacke vom Haken an der Tür. »Dann will ich dir nicht länger im Weg stehen.« Sie grinst mich kurz an. »Viel Glück!«
Weg ist sie und macht mir Platz, sodass ich nach dem Kaffeebecher und dem anderen kleinen Gegenstand am Rande der Spüle greifen und beides mit zu Fiore nehmen kann.
Oft funktionieren die einfachsten Pläne am besten.
Alles, was ich im Computersystem der Bücherei ausprobiere, wird registriert. Und wenn ich irgendetwas Interessantes aufzuspüren versuche, werden sie unverzüglich merken, dass ich darüber Bescheid weiß. Wahrscheinlich ist der Computer nur ein Köder, um die allzu Neugierigen und allzu Leichtsinnigen in eine Falle zu locken. Doch selbst wenn es anders sein sollte, werde ich vermutlich nichts Nützliches auftun - diese alten sprachgesteuerten Interfaces sind nicht nur mysteriös, sondern auch schwachsinnig.
Um diesen professionellen Paranoikern einen Schritt voraus zu sein, muss man geschickt und listig vorgehen und unorthodoxe Denkmethoden anwenden. Und ich denke Folgendes: Wenn Fiore, Bischof Yourdon und die anderen Versuchsleiter überhaupt eine Schwachstelle haben, dann ist es ihre Hingabe an den »Geist der Studie«. Also benutzen sie dort, wo die äußeren, in der dunklen Epoche bereits zugänglichen Kontrollmechanismen ausreichen, sicher keine modernen, sondern anachronistische Überwachungstechniken. Wo ein schriftlich fixiertes Handbuch und Aufzeichnungen auf Papier genügen, greifen sie sicher nicht auf die umfassenden Informationsstrukturen von Netzverbindungen zurück. (Entweder trifft genau das zu, oder aber das, was sie auf Papier notieren, ist wirklich geheim - Material, das sie keinem interaktiven Datensystem anvertrauen möchten, da sie fürchten, es könne attackiert werden.)
Der »ultrasichere« Lagerraum in der Bücherei ist nichts anderes als ein fensterloses Zimmer voller Aktenregale, dessen Tür durch ein simples Steckschloss gesichert ist. Wieso sollten sie auch mehr benötigen? Sie haben uns in einem Glashaus eingesperrt, in einem Netzwerk von Sektoren anonymer orbitaler Habitate, das lückenlos überwacht wird und in den nicht kartierten Tiefen des interstellaren Raums treibt. Die Koordinaten dieses Netzwerks und die Daten seiner Umlaufbahnen sind nicht bekannt, und es ist lediglich durch T-Tore miteinander verbunden, die deren Eigentümer nach Lust und Laune aktivieren oder deaktivieren können. Von außen ist es nur durch ein einziges gesichertes Langstrecken-Tor zugänglich. Darüber hinaus haben unsere Versuchsleiter offenbar einen verbrecherischen Chirurgen und Beichtvater mit der Leitung der Klinik betraut, sodass es nichts bringen würde, dort Alarm zu schlagen.
Nachdem ich an die Tür geklopft und Fiore seinen Kaffee gereicht habe, kehre ich in die Abteilung Nachschlagewerke zurück, trödele dort einige Minuten herum und blättere in einer Enzyklopädie, um die Zeit totzuschlagen. (Dabei stelle ich fest, dass unsere Vorfahren äußerst bizarre Vorstellungen von Neuroanatomie hatten, insbesondere was die Formbarkeit von Entwicklungen betraf. Vermutlich erklärt das auch, warum sie die strikte Trennung der Geschlechter förderten.)
Im Übrigen muss ich gar nicht lange warten: Fiore stürzt ins Büro und sieht sich um. »Sie da, gibt es hier eine Personaltoilette?« Mit nervösem Blick hält er nach der entsprechenden Tür Ausschau. Seine Stirn glänzt im Schein der Neonröhren.
»Ja, sicher. Hinter dem Aufenthaltsraum - hier entlang.« In gemächlichem Tempo gehe ich auf den Aufenthaltsraum zu, während Fiore mir mit kurzen Schritten und schwer atmend folgt.
»Schneller«, murmelt er. Ich trete zur Seite und deute auf die Tür. »Danke«, setzt er hinzu, während er in die Toilette stürmt. Gleich darauf höre ich, wie er sich an der Verriegelung zu schaffen macht und mit dem Toilettensitz herumklappert.
Ausgezeichnet. Falls ich Glück habe, macht er sein Geschäft, ohne vorher nach dem Toilettenpapier zu suchen. Und es gibt keines, weil ich es versteckt habe.
Ich kehre zur Tür des Geheimarchivs zurück. Fiore hat den Schlüssel stecken lassen, und die Tür ist nur angelehnt. Meine Güte! Schnell ziehe ich das Seifenstück, das scharfe Messer und den Streifen Toilettenpapier aus meiner Tasche, die ich auf dem Bodenbrett des Wägelchens zurückgelassen habe. Welch unglückseliger Schnitzer ist Fiore
Weitere Kostenlose Bücher