Glasklar
geprüft werden. Denn wer einmal eine riesige Ente präsentierte, der tat sich anschließend schwer, wieder ernst genommen zu werden. Das mochten die Journalisten der heutigen Generation anders sehen – zumindest befürchtete dies Sander, wenn er beim Durchzappen der Fernsehkanäle auf Journalismus stieß, bei dem sich ihm die Nackenhaare sträubten. Hauptsache, es erhitzte die Gemüter des normalen Volkes. Hauptsache, Events und Halligalli, mal eine schnelle Aufgeregtheit und falsche Empörung, schnell klischeehaft was behauptet, vor allem, wenn es aus einer gewissen politischen Ecke kam – und schon war die tollste Story zusammengebraut, auch wenn sie sich hinterher als Seifenblase entpuppte. Sander hätte auf Anhieb mehrere Beispiele nennen können.
Er brauchte Ruhe. Nichts wollte er jetzt in Hektik entscheiden. Die Geschichte lief ihm nicht davon. Ihn hatte der Unbekannte auserwählt, sie zu prüfen. Sander entschied sich, dem Wunsch von Manuela Maller nachzukommen und zu einem Gespräch nach Göppingen zu fahren. Schon wieder ertappte er sich dabei, dass er zum Parkdeck gehen wollte. Ungeduldig suchte er aus dem Adressenspeicher des Handys die Nummer seines Freundes Gunther heraus, der seine Kfz-Werkstatt am Stadtrand hatte. Doch die Hoffnung, dass der Golf inzwischen abgeschleppt und mit neuen Reifen ausgestattet war, bewahrheitete sich nicht.
Sander kehrte deshalb in die Redaktionsräume zurück, holte sich wortlos den Schlüssel für den Polo und machte sich auf den Weg. Er rief sich noch einmal in Erinnerung, was er vergangene Nacht über sein Aussageverweigerungsrecht nachgeschlagen hatte. Wenn er die Gesetzestexte als Laie richtig deutete – und daran hegte er Zweifel –, dann brauchte er den Verfasser oder Einsender von Beiträgen und Unterlagen nicht preiszugeben, sofern diese für die redaktionelle Arbeit gedacht waren. Allerdings, und dies gab ihm zu denken, hieß es in Paragraf 53 der Strafprozessordnung aber auch, dass die Berechtigung zur Zeugnisverweigerung zum Inhalt der selbst erarbeitenden Materialien entfalle, wenn die Aussage zur Aufklärung eines Verbrechens beitrage. Und im vorliegenden Fall war dies wohl so. Sander hatte schon oft genug gestaunt, wie Juristen ein und denselben Gesetzestext völlig unterschiedlich auslegten. Wie hatte doch einmal ein Richter gesagt, mit dem er vor einigen Jahren dieses Thema diskutiert hatte und den er um die Auslegung der entsprechenden Paragrafen gebeten hatte? ›Übliche Antwort eines Juristen‹, hatte die Erklärung gelautet: ›Es kommt drauf an.‹ Denn letztlich, so hatte es Sander in Erinnerung, stand der Schutz des Informanten trotzdem ganz hoch im Kurs. Demnach konnte er auf alle Fragen die Angaben verweigern, wenn daraus auf den Informanten geschlossen werden könnte.
Während Sander auf der B 10 mit dem täglichen Verkehrschaos konfrontiert wurde, kamen ihm weitere Worte des Richters in Erinnerung: Falls der Verdacht bestehe, dass ein Journalist von dem Verbrecher angerufen würde, könnte auch eine Telekommunikationsüberwachung erfolgen, wie das Anzapfen der Leitungen juristisch hieß. Oder, noch schlimmer: Gar kein Recht auf Aussageverweigerung gebe es, wenn der begründete Verdacht vorläge, er könnte selbst an der Tat oder an der Begünstigung des Täters beteiligt sein. Sander konnte sich kaum noch auf den Verkehr konzentrieren. Er fuhr viel zu dicht einem Tanklastzug hinterher und musste scharf abbremsen, als die Kolonne vor ihm stoppte.
Telekommunikationsdaten erheben, wiederholte er in Gedanken – und begründeter Verdacht, an der Tat beteiligt gewesen zu sein.
Er musste vorsichtig sein. Deshalb verwarf er den vorhin gefassten Entschluss, mit seinem Handy die Anrufe tätigen zu wollen. Er würde sich eine Telefonkarte besorgen, oder was man heutzutage zum Telefonieren an öffentlichen Sprechzellen brauchte. Seit Jahr und Tag hatte er keine Gespräche mehr auf diese Weise geführt. Bei nächster Gelegenheit musste er sich diese neuen Telefonsäulen der Telekom mal aus der Nähe betrachten. Vor allem durfte er dort weder mit Kreditkarte noch mit EC -Karte bezahlen. Auch dies wäre vermutlich nachvollziehbar. Die elektronische Welt war voller Fallstricke, kam es ihm in den Sinn. Egal, was man tat – überall wurden Spuren hinterlassen. Bis hin zur Tankstelle, wenn mit Karte bezahlt wurde. Dort hielten die Systeme fest, wann, wo und wie viel man getankt hatte. Sander entschied, bei der Fahrt zu wichtigen Treffen auch das Handy
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