Glasklar
wollen. Falls es so weit kommen würde, sollten sie Mariella selbst danach fragen, beschloss Linkohr. Er wollte sie wegen dieser Geschichte nicht verlieren.
Als er sich von ihr verabschiedet hatte und Richtung Schwäbisch Gmünd fuhr, kämpfte er bereits wieder gegen diese brennende Sehnsucht an. Gerade noch war er wie in Trance gewesen, hatte jeden Atemzug Mariellas genossen – und schon wieder quälte ihn der Entzug. Er besah sich im Innenspiegel und hoffte, dass man ihm in einer halben Stunde nicht mehr ansah, was er in der Mittagspause getrieben hatte. Verschwitzt konnte an so einem heißen Junitag schließlich jeder sein.
Die vergangene Dreiviertelstunde würde er nie wieder aus seinem Gedächtnis löschen können. Nie mehr. Doch jetzt, so rief ihn seine Vernunft in die Realität zurück, sollte er besser auf die Ampeln achten. Und sich auf den Fall konzentrieren. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er Mariella überhaupt nicht nach ihrem Bruder gefragt hatte. Aber auch dies wollte er lieber den Kollegen überlassen. Denn die hatten bereits mehrfach darüber gerätselt, weshalb Gunnar Koch ausgerechnet zum Wasserberg gefahren war. Schließlich gab es überall im Lande Sonnwendfeiern.
Linkohr fühlte sich matt und erschöpft. Er war mit seinem eigenen Twingo nach Schwäbisch Gmünd gefahren, obwohl er die Formalitäten hasste, die mit der Abrechnung privat gefahrener Kilometer verbunden waren. Doch so, wie er von dem mittäglichen Rendezvous zurückgekommen war, hatte er nicht zur Dienststelle gehen wollen, um ein Kripofahrzeug zu nehmen.
Das Gebäude der Steuerfahndung, die für mehrere umliegende Landkreise zuständig war, kannte er von früheren Fällen. Er parkte in einer Seitenstraße und betrat das unscheinbare Haus, dem man von außen nicht ansah, welch bedeutungsschwere Vorgänge in seinem Innern bearbeitet wurden. Der Chef des Steuerfahndungsbezirks, wie das Zuständigkeitsgebiet offiziell hieß, war auf Linkohrs Besuch vorbereitet und führte den Kriminalisten in ein Besprechungszimmer. Nikolaus Stahl, so hieß der Leiter des Gmünder Finanzamts, dem auch die 30 Steuerfahnder unterstanden, hatte trotz der Schwüle seine dezent dunkelblaue Krawatte korrekt gebunden und sein ebenso dunkles Jackett zugeknöpft. Die Seriosität in Person, dachte Linkohr und setzte sich an den ovalen weißen Tisch, der kein Stäubchen erkennen ließ. In einer Ecke des Raums darbte ein schlapper Philodendron vor sich hin, an einer der weiß getünchten Wände hing ein abstraktes Gemälde, dessen Farben auf Linkohr einen eher tristen Eindruck machten. Vielleicht sollte es die Stimmungslage eines ertappten Steuersünders symbolisieren.
Linkohr hoffte, dass er nicht allzu erschöpft wirkte. Er hatte sich im Auto noch mit einem alten Deo, das sich im Handschuhfach fand, ein bisschen Frische unter die Achseln gesprüht.
Er erläuterte noch einmal, wie es die Höflichkeit erforderte, den Grund seiner Dienstfahrt ins Remstal. Zwar hätte er seine Fragen lieber telefonisch gestellt, doch hatte Stahl auf einem ›persönlichen Gespräch unter vier Augen‹ bestanden. Jetzt, nachdem er sich beim Finanzministerium rückversichert hatte, war er bereit, die Ermittler zu unterstützen – soweit dies seine Befugnisse nicht überschreite, wie er noch einmal betonte.
»Herr Heidenreich, das ist uns bekannt, hat bei Ihnen gearbeitet«, begann der Kriminalist und legte seinen kleinen Notizblock auf den Tisch. »Seit wann war er bei Ihnen beschäftigt?«
»Ich hab mir die Daten geben lassen.« Stahl streckte sich zu einer Aktenhülle, die schräg hinter ihm auf einem weißen Schränkchen lag. »Herr Heidenreich«, las er vor, nachdem er einige lose Seiten umgeblättert hatte, »war seit 1983 bei uns, nachdem er 1979 aus dem Polizeidienst ausgeschieden war, damals, als junger Beamter.«
»Und dazwischen – ich mein, zwischen 1980 und 1983 –, was hat er da gemacht?«
»Soweit ich das hier ersehen kann, hat er eine Zusatzausbildung absolviert in Steuerrecht.« Er legte wieder ein Blatt umgedreht zur Seite, um die Reihenfolge nicht durcheinanderzubringen.
»Und seit 1983«, gab sich Linkohr gelassen und notierte die Daten, »seither hat er ununterbrochen hier gearbeitet?«
»So ist es – und zwar ohne Beanstandungen. Jedenfalls nichts, was in den Akten seinen Niederschlag gefunden hätte«, erklärte Stahl, der die Papiere durch eine schmale, starke Lesebrille studierte. Linkohr schätzte ihn auf Mitte 50. Sein ergrautes Haar
Weitere Kostenlose Bücher