Glasklar
war dünn, und unterm Jackett, dessen Knopf er beim Hinsetzen geöffnet hatte, deutete sich ein Bierbauch an.
Für einen Moment durchzuckte den Jungkriminalisten der Gedanke, ob der Mann wohl glücklich verheiratet war. Linkohr versuchte krampfhaft, nicht schon wieder die Sehnsucht nach Mariella aufkommen zu lassen. Nein, nicht jetzt. »Wie muss man sich Herrn Heidenreichs Tätigkeit vorstellen?«, fragte er, obwohl irgendetwas in seinem Gehirn unablässig rebellierte und ihn an diese Frau erinnerte.
»Das dürfte bei Ihnen nicht anders sein«, hörte er Stahls Stimme wie von weit her, »viel Arbeit am Schreibtisch, am Computer. Mit James Bond hat das wenig zu tun.« Stahl deutete vorsichtig ein Lächeln an. »Aber natürlich ist detektivischer Spürsinn angebracht. Aber sehr viel – ja, sehr viel – ist Verwaltungsarbeit.«
»Ich habe Ihnen ja bereits am Telefon angedeutet, dass wir auch davon ausgehen, das Tötungsdelikt könnte in einem Zusammenhang mit Heidenreichs Arbeit stehen …«
»Aber ich habe Ihnen ebenfalls gesagt, dass wir dafür keine Anhaltspunkte haben«, unterbrach ihn Stahl. »Überlegen Sie doch mal, Herr Linkohr: Wenn jeder Steuerschwindler ein potenzieller Mörder wäre, wie viele Tote es wöchentlich zu beklagen gäbe.« Er gab einen Ton von sich, der an ein unterdrücktes Lachen erinnerte.
»Nun hat es ja in jüngster Zeit spektakuläre Fälle gegeben – diese DVD aus Liechtenstein …«
»Nachdem Sie dieses Thema am Telefon schon angesprochen haben, habe ich mir die Vorgänge dazu geben lassen …« Stahl legte das nächste Blatt um. »Herr Heidenreich hatte damit nichts zu tun.«
Linkohr staunte. »Hat es denn in unserer Gegend gar keine Betroffenen gegeben?«, fragte er auch aus privater Neugier.
Stahl zögerte und sah den Kriminalisten skeptisch an. »Ich glaube, diese Frage hat nicht direkt etwas mit Ihrem Fall zu tun«, erwiderte er höflich, und Linkohr beließ es dabei. Stattdessen hakte er in eine andere Richtung nach: »Aber ich darf Sie fragen, womit Herr Heidenreich zuletzt befasst war – also, ob es so etwas wie einen ›großen Fall‹ gegeben hat.«
»Eigentlich nicht«, bemerkte Stahl. »Hier sind die Vorgänge aufgelistet, an denen er gearbeitet hat – zumindest, soweit wir dies auf die Schnelle feststellen konnten.« Er deutete auf seine Akten. »Es waren meist einige, ich würde mal sagen, etwas aufwendigere Fälle, aber keinesfalls spektakulär.«
»Wie muss man sich Herrn Heidenreichs Tätigkeit vorstellen?«
»Das sind beispielsweise komplizierte Vermögensverhältnisse bei Privatpersonen. Nach Erbschaften oder weil der Sachbearbeiter des örtlichen Finanzamts Ungereimtheiten in den Einkommensteuererklärungen entdeckt hat.«
»Also eher die kleinen Fische«, seufzte der Kriminalist und musste an einige von Häberles Bemerkungen denken, der immer wieder die Auffassung vertrat, die Finanzbehörden würden sich an den kleinen Bürgern festbeißen, während sie den Aufwand und den juristischen Widerstand bei den großen Steuerschwindlern scheuten.
»Auch Kleinvieh macht Mist«, sagte Stahl trocken. »Wir haben Steuergesetze, und wir sind dazu da, deren Einhaltung zu überwachen.«
»Gibt es denn einige Namen, die Sie mir nennen dürfen?«, kam Linkohr wieder zur Sache.
»Nach Rücksprache mit meiner vorgesetzten Stelle«, blieb Stahl ruhig, »habe ich Ihnen drei Personen herausgefiltert, gegen die Herr Heidenreich Ermittlungen wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung geführt hat – Personen, die auch in Ihr Raster passen, was die Wohnorte anbelangt.«
Linkohr verdrängte den erneut aufkommenden Gedanken an Mariella. Stahl war tatsächlich bereit, Namen zu nennen, staunte er und klickte seinen Kugelschreiber an. Doch der Behördenchef winkte ab: »Sie erhalten die Aufstellung schriftlich.« Er schob Linkohr einen Computerausdruck zu. »Ich weiß nicht, ob Ihnen die Namen etwas sagen. Es handelt sich um einen Pädagogen im Ruhestand, gegen den der Verdacht besteht, größere Bargeldmengen aus einer Erbschaft unterschlagen zu haben – hier …«
Stahl deutete auf den Namen, und Linkohr spürte, wie sein Puls wieder schneller wurde. »Reinhard Meinländer«, las er laut vor, »Realschullehrer im Ruhestand.« Dann folgte die Adresse. Beinahe wäre Linkohr sein Lieblingsspruch für solche Momente allergrößter Überraschungen über die Lippen gegangen. Er schluckte und las weiter: »Georg Sander, Journalist.« Er sah auf und fragte:
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