Glasklar
»Sander? Was liegt denn gegen den vor?«
»Irgendwelche Nebentätigkeiten, die sich nicht nachvollziehen lassen. Vermutlich aber nur deshalb, weil er es mit der Buchhaltung nicht so genau nimmt. Ein Journalist eben …« Stahl lächelte milde, wie man dies von Finanzbeamten nicht gewohnt war.
Linkohr las den dritten Namen: »Sigge Starz, Systemelektroniker.«
»Aktienspekulant«, erklärte Stahl, ohne gefragt zu werden. »Scheint das in großem Stil zu machen. Russische Ölfelder und so – aber auch Warentermingeschäfte.«
Linkohr musste sich eingestehen, nur wenig davon zu verstehen. Das war eine Welt, die ihm verschlossen blieb – eine Welt, in der nur per Mausklick fiktive Geschäfte gemacht wurden, um sich mit Spekulationsgewinnen zu bereichern. Die internationalen Finanzmärkte hatten doch längst jeden Bereich des Lebens erfasst und im Griff. Seit Energien an Börsen gehandelt wurden – Heizöl, Gas und Strom –, wurde der Schwächste in der Kette, nämlich der Verbraucher, gnadenlos zur Kasse gebeten. Wie Vampire saßen die Mausklicker vor ihren Computern, um das Volk auszusaugen. Moral und Ethik waren längst über Bord geworfen worden. Seit es möglich war, von jedem Winkel der Welt aus sein Geld, oder auch jenes, das man gar nicht hatte oder lediglich glaubte zu haben, hin und her zu schieben, um es auf Kosten anderer zu vermehren, war der Blick auf die Armut in der Welt durch Dollar- und Eurozeichen getrübt. Linkohr musste plötzlich an die Aufgeregtheit der heimischen Politiker denken, als jüngst der sogenannte Armutsbericht veröffentlicht worden war und alle so getan hatten, als wüssten sie nicht um die Situation der Familien und Normalverdiener. Allein an dieser Reaktion, so schien es dem Jungkriminalisten, war zu erkennen, wie weit sich die Politiker inzwischen von der Realität in diesem Lande entfernt hatten. Man brauchte doch nur ins Volk hineinzuhören, sich mit den sozialen Problemen auseinanderzusetzen, um die finanzielle Lage zu erkennen. Wer sich ausschließlich unter seinesgleichen bewegte, sich beweihräuchern ließ und sich auf internationalen Parketts sonnte, den konnte natürlich ein Zustandsbericht über die wachsende Armut, vor allem der Kinder, in Staunen versetzen.
Linkohr versuchte, sich wieder auf das Gespräch zu konzentrieren. »Weiß man denn auch, wie weit die Ermittlungen von Herrn Heidenreich gediehen waren?«
»Dazu müssten wir seine Protokolle im Computer auswerten. Aber das dürfte noch einige Zeit in Anspruch nehmen«, stellte Stahl fest.
»Ist den Betroffenen eigentlich bekannt, dass gegen sie ermittelt wird?«
»Ich geh mal davon aus. Herr Heidenreich hat sicher mit ihnen gesprochen oder ihnen Fristen gesetzt.«
»Und ansonsten? Ich mein, wie war Herr Heidenreich … gab es Probleme mit ihm?«
»Probleme?«, wiederholte Stahl und strich über seine Papiere. »Herr Heidenreich galt als überaus korrekt.«
Linkohr glaubte, eine gewisse Empörung herauszuhören. »Wir wissen über Herrn Heidenreich momentan noch nicht sehr viel«, versuchte er, ein anderes Thema anzusprechen. »Er war geschieden, seine Ex hat sich wohl irgendwo nach Frankreich zurückgezogen, und es soll noch einen Sohn geben …«
»Da dürfen Sie mich nicht fragen«, unterbrach ihn Stahl. »Zum einen sind das private Angelegenheiten, in die ich mich nicht einmische, und zum anderen war Heidenreich ein eher zurückhaltender Typ, der im Übrigen auch an keinen geselligen Veranstaltungen amtsintern teilgenommen hat.«
Linkohr wollte nicht nachfragen, um welche Art geselliger Veranstaltungen es sich bei einem Finanzamt handeln konnte. »Dann erübrigt sich auch die Frage nach etwaigen anderen Beschäftigungen«, schloss Linkohr.
Der Behördenchef verzog keine Miene. »Dass er ziemlich eigenwillig werden konnte, wenn er sich für etwas engagierte, wird Ihnen nicht entgangen sein.«
»Sie meinen die Sache mit der Eisenbahn?«
»Zum Beispiel, ja. Wir haben das die letzten Monate etwas kritisch verfolgt. Immerhin stand sein Name einige Male in den Zeitungen, als er sich zu diesem Tunnel geäußert hat.«
»Er hat sich wohl ziemlich stark engagiert«, gab sich Linkohr sachkundig. »Gibt es da denn einen Grund, weshalb ihn dies persönlich so sehr berührt hat? Zwar hat er in Weilheim gewohnt, also ziemlich dicht an der Trasse, aber man stellt sich doch die Frage, ob man deshalb gleich so massiv vorgehen muss.«
Zum ersten Mal verzog Stahl sein kantiges Gesicht zu einem Lächeln.
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