Glasklar
die Leser auffordern könnten, uns bei der Suche nach Personen behilflich zu sein, die plötzlich entweder gar keine Brille mehr haben oder sozusagen von einem Tag auf den anderen ein anderes Gestell tragen. Und natürlich geht der Aufruf auch an alle Optiker, denen gestern oder heute Brillen zur Reparatur gebracht wurden.«
»Das Opfer hat keine Brille getragen?«, fragte die Journalistin aus Stuttgart schnell dazwischen.
»Nein, das ist ausgeschlossen. Werner Heidenreich hat definitiv keine Brille benötigt«, erwiderte Manuela Maller und fügte rasch hinzu: »Natürlich ist uns bewusst, dass wir uns bei der Suche nach Brillenträgern schwertun. Mancher setzt sie nur gelegentlich auf – zu besonderen Anlässen, zum Autofahren oder nur im Freien. Und dass es Kurz- und Weitsichtige gibt und manche auch zwischen Brille und Kontaktlinsen wechseln.«
»Und dass es Leute gibt«, ergänzte Sander spontan, »die gleich mehrere Ersatzbrillen besitzen und diese sogar regelmäßig austauschen.« Er sah Ziegler direkt ins Gesicht, als sei der Hinweis nur für ihn bestimmt: »Ich gehöre auch dazu.«
36.
Mit einem kräftigen Hagelunwetter war der schwüle Nachmittag zu Ende gegangen. Mancherorts hatten die Eiskristalle die bunten Blumenbeete und die üppigen Gemüsegärten verwüstet. Doch bereits am frühen Abend hatten sich die Wolken wieder verzogen und die ramponierten Pflanzen standen wie Gewächse aus einer fremden Welt im Sonnenlicht. So jedenfalls empfanden es die Umweltschützer bei ihrer Fahrt ins weithin bekannte Gasthaus ›Lamm‹ in Schlat, wo sie sich monatlich zur Sitzung ihres Arbeitskreises trafen. Diesem gehörten unterschiedliche Naturschutzverbände sowie viele Institutionen und Vereine an, die sich mit Umwelt und Natur verbunden fühlten, so zum Beispiel Kirchen, Gewerkschaften und sogar Parteien. In dem separaten Sitzungsraum, in dem große Fuhrwerksräder als rustikale Lampen von der Decke hingen, berieten die meist männlichen und in ihrer Mehrheit dem Rentenalter schon ziemlich nahen Mitglieder über Flächennutzungspläne, Bebauungspläne, Bauprojekte und Naturschutzmaßnahmen. Vorsitzender Kuno Schloz, ein engagierter und sportlicher Mittvierziger, der aus dem Forstsektor kam und auf Ausgleich und Kompromisse bedacht war, hatte meist die vielfältigen Unterlagen der Behörden gesichtet und bearbeitet und für die Tageslichtprojektoren oder den Beamer aufbereitet. Ihm oblag es, die Themen nicht durch die Vereinsbrille eines der Interessenvertreter zu begutachten, sondern die umfangreichen gesetzlichen Möglichkeiten darzulegen und auszuschöpfen. Linkohr war einige Minuten vor Beginn der Sitzung eingetroffen, um sich dem Vorsitzenden als angeblicher Vertreter des Göppinger Alpenvereins vorzustellen. Er wolle sich als Neuling einmal über die Tätigkeit des Arbeitskreises informieren, log er überzeugend, worauf der Vorsitzende sofort die Bedeutung dieser Einrichtung hervorhob und erklärte: »Früher hat jeder dieser Vereine und Institutionen für sich allein gesprochen und teilweise Gegensätzliches ausgesagt. Nun versuchen wir hier, alle irgendwie unter einen Hut zu bringen.«
Linkohr konnte sich vorstellen, dass dies nicht gerade einfach war. Zwei ältere Herren hatten an der Stirnseite einer der beiden langen Tischreihen Platz genommen und Rotwein-Viertele bestellt.
»Heute könnte es ein bisschen spannend werden«, erklärte Schloz und deutete auf drei Aktenordner, die alle mit ›Bahn‹ beschriftet waren. »Aber Sie haben es ja sicher in den Medien verfolgt. Der Herr Heidenreich ist leider verstorben.«
Linkohr vergrub seine Hände in der Jacke. »Umgebracht«, murmelte er. »Aber das dürfte wohl kaum mit seiner Arbeit hier zu tun haben.«
Schloz zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Wer kräftig rangeht, muss auch mit Gegenschlägen rechnen.«
Der Vorsitzende sortierte einige Folien, die er nachher auf den Tageslichtprojektor legen wollte, während weitere Sitzungsteilnehmer eintrafen und einen knappen Gruß über die Lippen brachten.
Linkohr staunte. Er hielt vergeblich nach Personen seiner Altersklasse Ausschau. Denn er hatte vermutet, dass Natur- und Umweltschutz gerade die jüngeren Semester besonders interessierte. Aber bei allem, was er bisher sah, galt er heute Abend als der ›Youngster‹, wie man heutzutage Jüngere zu nennen pflegte.
»War Herr Heidenreich eigentlich regelmäßig hier?«, fragte er eher beiläufig, denn er wollte unter keinen Umständen den Eindruck
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