Glasklar
mehr – damit bezwecken will, beschreibt er hier.« Er nahm eines der provisorisch zusammengehefteten Blätter in die Hand und las vor: »Mit Datum von Sonntag steht da:
›Sehr geehrter Herr Sander, bitte wundern Sie sich nicht, wenn ich mich auf diese Weise an Sie wende. Eine Freundin hat Sie mir empfohlen, weil sie der Meinung ist, Sie könnten die beigelegten Kopien in geeigneter Form an die Öffentlichkeit bringen. Mir geht es um keinen Skandal (sonst hätte ich mich an die ›Bild‹-Zeitung gewandt), sondern um die Wahrheit. Werner Heidenreich ist jetzt tot. Wir sind ein Stück des Lebenswegs miteinander gegangen, aber dann sind Dinge geschehen, die ich erst in den vergangenen Monaten erfahren habe. Nun wird es Zeit, sie an die Öffentlichkeit zu bringen. Solange er lebte, wollte ich es nicht tun. Aber nun soll die Wahrheit auf den Tisch.‹«
Sander machte eine Pause und sah in die regungslosen Gesichter der beiden Kollegen. Rahn war inzwischen tief in den gepolsterten Stuhl gerutscht, Kauz hatte sich mit verschränkten Armen zurückgelehnt. Es war drückend heiß im Raum. Durch die große Glasscheibe zur Redaktion waren Kollegen zu sehen, die sich um den Bildschirm des Fotografen gruppierten und diskutierten.
»›Heidenreich‹«, so las Sander weiter vor, »›gehörte in den 70er-Jahren einer Spezialeinheit an, die es offiziell gar nicht gab. So eine Art Vorläufer des Spezialeinsatzkommandos. In Mogadischu war es die GSG 9, die das Flugzeug mit den Geiseln befreit hat – aber im Inland gab es eine andere Gruppe, die direkt dem Innenministerium unterstand und die die Aufgabe hatte, den Terrorismus auf der untersten Stufe zu bekämpfen. Kopien von Unterlagen lege ich bei.‹« Sander unterbrach erneut und zeigte auf zusammengeheftete Blätter: »Das da. Kopien geheimer Dokumente aus dem Innenministerium des Landes aus dem Jahre 1977.« Dann wandte er sich wieder dem Anschreiben zu, das keinen Namen und keine Unterschrift trug.
»›Inzwischen weiß ich‹«, zitierte er weiter, »›dass Werner Heidenreich am 10. Oktober 1977 meinen Bruder Günter erschossen hat.‹«
45.
Häberle hatte aufgelegt und den Inhalt des Telefonats mit dem pensionierten Lehrer Meinländer wiedergegeben. Für einen Moment schwiegen die Kollegen der Sonderkommission. »Das ist ja ein Ding!«, staunte schließlich einer.
Speckinger schaltete sich ein: »Du hast doch heute Morgen angedeutet, es gäb’ da einen Flippi in Heidenreichs Polizeivergangenheit – oder wie war das?«
Häberle runzelte die Stirn. »Maggy hat dies eruiert«, räumte er ein. Chefin Manuela Maller hatte ihm versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten. Jetzt war es bereits Spätnachmittag, und sie hatte sich noch immer nicht gemeldet. Er beschloss, sie in ihrem Büro aufzusuchen. »Mir scheint, die Sache ist heiß«, verkündete er und verließ den Lehrsaal.
Manuela Mallers Büro war schlicht und klein und wurde über den ›Umweg‹ eines Vorzimmers betreten, das gleichzeitig der Zugang zum Zimmer des Pressesprechers war. Häberle begrüßte die Dame am Schreibtisch, winkte Pressesprecher Uli Stock zu und wandte sich nach links zur nur angelehnten Tür des Chefbüros. Er klopfte kurz und trat ein. »Tut mir leid, Sie zu stören«, entschuldigte er sich und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.
Manuela Maller lächelte. »Sie stören nicht. Ich wollte ohnehin zu Ihnen runterkommen.« Sie ging um den Schreibtisch herum und setzte sich zu ihm an den Besprechungstisch. »Ich bin Ihnen noch eine Antwort schuldig«, meinte sie und strahlte eine beneidenswerte jugendliche Frische aus, wie Häberle es jedes Mal beeindruckt feststellte, wenn er diese Frau sah.
»Flippi«, gab er das Stichwort und grinste. »Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass die Sache Heidenreich in eine ganz andere Richtung geht, als wir bisher vermutet haben. Ich weiß nur noch nicht so genau, in welche. Aber es wäre ziemlich hilfreich, wenn wir wüssten, was es mit diesem Flippi auf sich hat.« Er wollte noch nicht sagen, dass es sich möglicherweise um den Bruder Lechners handelte.
»Flippi«, wiederholte Maller und griff sich ihren Notizblock, der in Reichweite auf dem Schreibtisch lag. »Das war der Spitzname von Günter Lechner, der 1977 bei einem Anti-Terror-Einsatz – jedenfalls würde man so heute dazu sagen – ums Leben kam. Bei einem Schusswechsel mit der Polizei in einer alten Fabrikhalle in Esslingen am 10. Oktober 1977 – das war drei
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