Glasscherbenviertel - Franken Krimi
hätte, wie sinnlos ihr Gehabe ist, liegst du meilenweit daneben. Anstatt drüber nachzudenken, ob sie selbst nicht ebenfalls zur Eskalation der Situation beigetragen haben, geben sie allein ihrer Schwester die Schuld an allem, was passiert ist. Dabei sind sie auch noch unverfroren genug, uns gegenüber Drohungen gegen sie auszusprechen. Aber das Schlimmste daran ist: So stur und aggressiv, wie die beiden hier aufgetreten sind, glaube ich ihnen jedes Wort.«
»Haben sie mit etwas Konkretem gedroht?«, fragte Hackenholt alarmiert.
»Ja.« Stellfeldt nahm mehrere Seiten vom Schreibtisch und blätterte kurz darin, bevor er vorlas: »›Wenn sich die Hure noch mal bei uns blicken lässt, ist sie fällig. Sie hat unseren Vater umgebracht, dafür werde ich sie bestrafen.‹ Das war O-Ton Dilser Barzani.« Er legte ein Blatt zur Seite und las weiter. »›Wir werden die Nutte schon finden, die Schande über unsere Familie gebracht hat. Sie kann sich nicht ihr Leben lang verstecken, und wir vergessen nie.‹ Wenn man solche Brüder hat, wozu braucht man dann eine Familie? Schlussendlich sind das Morddrohungen. Den Wahnsinn musst du dir mal vorstellen.«
»Das dürfen wir nicht auf sich beruhen lassen. Was können wir für Rojin Barzani tun?«
»Sie muss auf alle Fälle umgehend darüber informiert werden, in welcher Gefahr sie sich noch immer befindet. Am besten durch dich oder die Kollegin in Eichstätt – euch beide kennt sie bereits und hat ein Mindestmaß an Vertrauen aufgebaut. Das Ganze sollte persönlich passieren, nicht am Telefon. Am Ende wird sie noch panisch, wenn sie erfährt, dass ihre Brüder sie suchen, und haut unüberlegt irgendwohin ab.« Stellfeldt massierte sich die Glatze. »Vielleicht solltest du Petra von der Zeughauswache anrufen. Die kennt sich bei so etwas aus, schließlich ist sie Opferschutzbeauftragte. Ich weiß lediglich, dass es auch Schutzprogramme für junge Erwachsene gibt, die von einer Zwangsverheiratung oder Ehrenmordgefahr bedroht sind. Aber wie die konkret aussehen, davon habe ich keine Ahnung.«
Hackenholt nickte und ging in sein Büro zurück, von wo aus er die Beamtin in der Polizeiberatung anrief. Er schilderte ihr nicht nur die eigentliche Situation, in der sich Rojin Barzani befand, sondern auch sämtliche Gegebenheiten rund um den komplizierten Fall, bevor er sie um Rat fragte.
»Der getötete Freund von der jungen Frau scheint bemerkenswert mitgedacht zu haben. In der Tat war es wichtig, absolut niemandem zu sagen, wohin man gehen wird, das Bankkonto aufzulösen, keine Handys mitzunehmen und so weiter. Wenn sie sich an uns gewandt hätten, hätten wir ihnen helfen können.«
»Nun ja, Was-wäre-wenn-Szenarien nutzen jetzt auch nichts mehr. Die Frage ist: Was können wir im Augenblick ganz konkret für Frau Barzani tun?«
»Zunächst muss die junge Frau vor ihrer eigenen Familie geschützt werden. Sie darf unter keinen Umständen weiter bei ihrer Freundin im Studentenwohnheim bleiben. Früher oder später werden ihre Brüder sie dort finden«, erklärte die Kollegin Hackenholt. »Niemand im Umkreis der Frau darf erfahren, wohin sie flieht, denn wenn es auch nur eine einzige Person weiß, ist nicht auszuschließen, dass diese wiederum bedroht wird, damit sie den Aufenthaltsort preisgibt.
In einem zweiten Schritt müssen die Möglichkeiten von langfristigen Hilfsangeboten geprüft werden. Für Fälle wie diesen gibt es in ganz Deutschland mehrere anonyme Einrichtungen, die Mädchen und junge Frauen mit Migrationshintergrund im Alter von zwölf bis maximal einundzwanzig Jahren aufnehmen. Sie sind unter anderem auf den Umgang mit Zwangsheirat und Gewalt im Namen der Ehre spezialisiert. Diese Einrichtungen werden vom Jugendamt finanziert.
Frau Barzani müsste um eine Inobhutnahme bitten. Wichtig ist, dass sie zuvor beim Altdorfer Jugendamt die Bedrohungssituation so eindrücklich darstellt, dass die eine Kostenübernahme nicht ablehnen können. Wenn du willst, kümmere ich mich um den Teil. Wir haben einen ganz guten Draht zu den Jugendämtern in der Region. Ich kann eine offizielle Stellungnahme schreiben, dann müsste es in einem so schwerwiegenden Fall wie diesem eigentlich problemlos klappen.
Die Mädchen leben in den Einrichtungen in anonymen Wohngruppen zusammen, die zum Teil rund um die Uhr betreut werden – je nach Art der Bedrohung beziehungsweise Grad der Selbstständigkeit. Nach einiger Zeit können sie dann meistens in eine sogenannte offene Wohngruppe
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