Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
können.
»Warum?« Ihre Stimme bebte. »Das ist unmenschlich.«
Nathanael schwieg. Sein Kopf sank herab. Nach einer Weile nickte er. »So grausam es klingt, daran führt Amadeo mein Leben ad absurdum. Er macht mich zu dem Mörder, den er braucht. Ich sehe meine Befreiung darin, dem Wahnsinn zu entkommen, wenn meine Liebe endlich wieder an meiner Seite ist. Dann muss ich nicht mehr zwanghaft töten. Nie wieder.« Seine Lippen zitterten. In seinen schwarzen Augen schimmerte Feuchtigkeit.
Hin- und hergerissen zwischen Abscheu, Angst und Mitleid, ballte Camilla die Hände zu Fäusten. »Sind Sie sicher, dass das der richtige Weg ist?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich verlasse mich auf deine Menschlichkeit, Camilla.«
Die Worte berührten etwas in ihr. Wie zuvor schon mehrfach wusste sie für einen Augenblick, worauf er hinauswollte. Es stand klar vor ihr und verblasste sofort wieder. Das Einzige, was zurückblieb, war die Ahnung, zwischen seinen Worten nach der Wahrheit zu suchen. Er gab Hinweise, die sie entschlüsseln musste. Wahrscheinlich konnte er in Grimms Gegenwart nicht sprechen. Unsicher beobachtete sie ihn.
»Warum kennt Amadeo so wenig Gnade?«, fragte Camilla leise.
»Du weißt es doch. Er ist ein guter Herr seiner Herde«, entgegnete Nathanael. In seiner Stimme schwang nicht der geringste Spott mit. Was er sagte, meinte er sehr ernst. »Ein Herrscher, der an das Wohl seines Volkes denkt, kalkuliert immer genau die Verluste ein, die er auf sich nehmen muss, damit seine kleine Welt so bleibt, wie sie ist. Die Einwohner Ancienne Colognes könnten nicht sicher und ruhig leben, wenn es Amadeo nicht gäbe, der für sie die unschönen Dinge erledigt, von denen sie nie etwas erfahren.«
Camilla verstand, worauf Nathanael hinauswollte. Allerdings brachten seine Worte ihr Blut zum Kochen. Sie ballte die Fäuste und grub ihre schartigen Nägel zwischen den Mullstreifen in die Handinnenflächen. Der Schmerz half nur gering, um ihre Gefühle zu dämpfen.
»Er nutzt jede Chance.« Mit einer Hand wies er auf Chris. »Er konnte Andreas standhalten, ihn sogar geistig schlagen.«
Camilla spürte Chris’ Nervosität. Seine Hände drückten unsanft in ihre Schulter.
Er knurrte zornig. »Wovon reden Sie?«
Grimms Blick umwölkte sich, bevor sein Gesicht maskenhafte Starre annahm.
»Ich rede von dem Tag, an dem du Andreas all die Qualen zurückgegeben hast, die er dir verursachte. Du hast etwas in ihm zerstört, was unwiederbringlich ist.«
Chris spannte sich.
»Amadeo erkannte, dass du treu und stark bist. Deine Fähigkeiten bestehen nicht darin, Gedanken zu lesen, zu manipulieren oder zu senden. Du bist psychisch unangreifbar, weil du jede Attacke spiegelst und gegen seinen Ursprung richtest.«
Chris löste sich von Camilla und trat an ihr vorüber zu Nathanael. Wenige Zentimeter vor dem Sandmann blieb er stehen.
»Wie kann ich dann Amadeos Befehle wahrnehmen?«, fragte er leise. Misstrauen schwang in seiner Stimme mit.
»Attacken spiegelst du«, antwortete Nathanael, ohne ihn anzusehen. »Ich habe nicht gesagt, dass du unempfänglich für psychische Impulse bist.«
»Davon hat Amadeo mir nie etwas gesagt.«
»Er geht davon aus, dass es unklug ist, seinen Schützlingen zu viele Einblicke in sein Weltkonstrukt zu gewähren, bevor ihm dieses Wissen Schaden zufügen kann.«
»Amadeo benutzt jeden«, sagte Camilla mit Nachdruck.
»Besonders seine Schützlinge.« Nathanael wies auf Chris. »Ihn braucht er besonders dringend. Er passt weitaus besser in seine Pläne als Andreas oder Amelie. Christophs Natur ist gutmütig, geduldig und freundlich. Er hat keinem in Ancienne Cologne je etwas getan. Viel mehr versorgt er die Stadt mit Wissen, Medikamenten, Nahrung und Informationen. Amadeo unterstützt ihn, um dieses Bild aufrecht zu erhalten. Alles passt für ihn zusammen.« Er wandte sich an Chris. »Du wirst instrumentalisiert. Teil dieses Planes sind die Gefühle, die ihr füreinander hegt. Er weiß Liebe wie eine Waffe zu nutzen.«
Camilla zuckte zusammen. »Wie soll das gehen?«
»Er hat deine Fähigkeiten getestet, Camilla. Du liebst Christoph und alles, was du mit ihm verbindest, also auch alle positiven Begegnungen und Ancienne Cologne. Nie würdest du zulassen, dass wir dieser Stadt Leid zufügen. Also würdest du gegen uns kämpfen, uns besiegen …« Er hob die Schultern. »Und um deine Freunde, die Maschinenmenschen, vor dem Aus zu bewahren, wärest du bereit, ihnen das ewige Leben zu schenken«,
Weitere Kostenlose Bücher