Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
erwiderte Nathanael.
Camilla erstarrte. »Was?«
»Wenn er dich so weit unter Kontrolle bekommt, wirst du ihnen das Leben einhauchen, was er mir bislang stahl.« Nathanael sprach unbeirrt weiter. »Siehst du das nicht, Camilla? Um dich zu beherrschen, braucht er Christoph.« Er löste sich von dem Tisch. Behutsam legte er Chris seine Hand unter das Kinn und betrachtete ihn eine Weile. In dessen Augen glomm Schrecken.
»Armer Junge«, flüsterte Nathanael.
Sie glaubte, aus seiner Stimme Sorge zu hören. Trotzdem klang es, als würde Chris gleich sterben müssen.
»Er wird dich opfern, um Camilla und die Stadt zu einem Kampf gegen mich zu führen.«
Elektrisiert fuhr sie auf. »Das darf er nicht.«
Nathanael ließ sich nicht beirren. »Er wird, Camilla. Danach ist er endlich frei. Amadeos Aufgabe wird beendet sein.«
Sie trat zu Chris, der Nathanaels Hand zur Seite schob. »Ich lasse mich nicht missbrauchen«, sagte er fest.
Nathanael lächelte wissend. »Vielleicht bleibt euch keine andere Wahl.«
Camilla schüttelte unwirsch den Kopf. Zugleich erwachte in ihr ein unguter Verdacht. Was hätte Nathanael davon, sie gegen Amadeo aufzuhetzen? Er konnte ihr Misstrauen anstacheln, ihr eine Basis nehmen. Trotz allem lag in seiner Offenheit keine Lüge. Sie wusste es wie ein Nachhall dessen, was sie gerade vergessen hatte. Eine Frage brannte ihr aber auf der Zunge. »Woher wissen Sie so genau über Chris und mich Bescheid?«
»Euch durch Andreas’ Augen zu beobachten, war nicht schwer. Wichtiger ist, dass du bei unserer zweiten Begegnung begannst, Einfluss auf mich zu nehmen. Ganz ähnlich wie Amadeo bewegst du etwas in mir.«
Schaudernd rieb Camilla über ihre Arme. »Ich habe Sie beeinflusst?«
Er strich sich das lange Haar über die Schulter. »Durchaus sehr stark. Trotz der ersten Begegnung mit mir, die euch beiden beinah zum Verhängnis wurde, hattest du weniger Angst vor mir, mein Kind. Du hast mich als irreales Monster gesehen.«
Peinliche Stille trat ein. Sie wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Nathanael sagte die Wahrheit. Für sie lag alle Bedrohung nicht bei ihm, sondern Grimm.
»Das ist nicht schlimm, Camilla.« Nathanael versuchte zu lächeln. »Um mich greifbarer zu gestalten, hast du dir Gedanken über das Wieso und Warum meiner Handlungen gemacht und trafst dabei auf den Kern der Wahrheit – auch ich bin ein Mensch. Du dachtest über mich nur noch selten als Sandmann. Für dich wurde ich zu Nathanael.«
Der Gedankengang traf zu. Camilla begriff, dass sie dabei war, ihm seine Menschlichkeit zurückzugeben.
»Deshalb?« Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Der Gedanke berührte sie zutiefst. Etwas von ihr wollte den genialen Ingenieur kennenlernen, den Mann, der von der Perfektion träumte. Sie gab ihm all das Leid über seine Existenz zurück, aber auch den Stolz, ein Mensch zu sein.
Nathanael nickte wissend. »Ein Teil von dir ist in mir.«
Ihr wurde schwindelig. Sie musste sich festhalten.
»Amadeo würde zugunsten seiner Stadt über Leichen gehen. Aber warum? Was hat er davon?«
»Macht. Er ist ein gnadenloser Autokrat, Camilla.« Christophs Stimme klang tonlos.
»Er ging schon vor 200 Jahren über Leichen«, sagte Nathanael. »Eines seiner Opfer war Amelie.«
Chris fuhr zu ihm herum. »Wie?«
»Amelie besaß Camillas Begabung«, erklärte Nathanael und schritt um Chris und Camilla herum. »Genau wie ihr kleiner Bruder Andreas.«
Christophs Gesicht verlor alle Farbe. »Soll das heißen, Grimm und Amelie sind Geschwister?«, fragte Camilla.
Grimm nickte unwillig. Zornig starrte er Nathanael an.
»Kannte Amadeo sie schon, bevor sie schwanger nach Ancienne Cologne kam?« Christophs Hände ballten sich zu Fäusten, bis die Knöchel weiß hervorstachen.
»Ja.« Grimm schloss die Augen. Eine Gefühlsregung, die irgendwo zwischen Schmerz und Wut lag, löste seine kalte Mimik auf. Er sank etwas in sich zusammen. Dieses Geständnis schien ihm alle Kraft zu rauben.
»Aber Olympia und Amadeo sagten doch …«, begann Camilla.
»Du bist so blöd, Weib. Was die beiden sagen, solltest du nie glauben, oder zumindest hinterfragen.«
Grimms brüske Unterbrechung nahm sie ihm nicht einmal übel. Schließlich hatte er recht. Enttäuscht über ihre schlechte Menschenkenntnis nickte sie.
»Schon richtig.«
»Sie legen nur das Nötigste offen. Was dich nicht zu interessieren hat, verschweigen sie.« Grimms scharfer Tonfall nahm ab.
»Das bedeutet also, dass Amelie aus
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