Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Angewohnheit, sich zu verschließen.
»Sei einfach da.«
Er hatte ihre Gedanken gelesen. Diese Worte schnürten ihr die Luft ab. Trotz allem nickte sie.
Nach einer Weile löste Christoph sich von ihr. Sanft strich er über ihre Wange, wobei er sie liebevoll anlächelte. Langsam wandte er sich Grimm zu.
»Du hast all das vor meiner Geburt miterlebt.«
Grimm nickte knapp. Seine Mimik glich wieder der Maske.
»Ich habe nie verstanden, weshalb Amadeo das Risiko mit Amelie eingegangen ist und die Sicherheit der Stadt riskierte.«
Stumm deutete Grimm auf Chris.
»War wohl der klassische Fehlschlag. Begabung habe ich keine.«
Schulterzuckend nickte Grimm. »Ist wohl eher so, dass du resistenter bist.«
»Weshalb hat Amadeo ihre Seele in eine Puppe gebannt? Sie war allen Erzählungen nach wahnsinnig und aggressiv. Angeblich hat sie sogar versucht, Amadeo umzubringen. Kannst du mir diese Frage beantworten?«
Grimms Blick verhärtete sich. »Klar kann ich.«
Chris machte eine auffordernde Handbewegung.
»Er wollte nicht nur die Seele, sondern ihre Fähigkeiten übertragen.«
»Aber das geht nicht.«
»Er konnte es nicht. Anstatt der aggressiven Kriegerin, die er wollte, bekam er ein zahmes Mädchen, das sich nur noch um ihr Kind und den Haushalt kümmern wollte. Das Ding war nicht mehr meine Schwester …« Mit der geballten Faust schlug Grimm auf die Arbeitsplatte. »Er hat sie getötet.«
Der Zustand, in dem sich Grimm befand, zwang Camilla, sich über ihn ein neues Bild zu machen. Der seelische Druck, dem er sich selbst aussetzte, schmolz das Monster zu dem Mensch, der er war. Es blieb kein Raum für falsche Gesichter. Ihr stand der wirkliche Andreas Grimm gegenüber.
»Kann man denn einen Uhrwerkmenschen bauen, der seine Fähigkeiten behält?«, fragte Camilla.
Nathanael schüttelte den Kopf. »Darin liegt Amadeos Denkfehler. Man muss entweder Seele, Nervensystem und Verstand übertragen, oder man tauscht die Gliedmaßen des menschlichen Körpers gegen Maschinenteile aus.«
Überrascht von seiner Offenheit fand Camilla keine Worte mehr. Seine Erklärungen halfen ihr, sich ein Bild aus den bisherigen Puzzleteilen zu machen. Sie begriff, dass sie alle nur Schachfiguren eines perfiden Spielers waren.
»Als Amadeo die Realität änderte, erschuf er eine künstliche Wirklichkeit und nahm den Akteuren in seinem Spiel die Möglichkeit, sich selbst zu entwickeln.«
Nathanael nickte. »Bis auf mich. In meiner Verrohung konnte ich mich immer weiter von ihm entfernen. Trotz allem nahm er Einfluss, indem er meine Einsamkeit schürte. Er vertrieb mich aus der Stadt, raubte mir die Zuneigung meiner geliebten Olympia und zerrte mich an den Pranger. Durch die Beeinflussung gewann er Anhänger, die ihn unterstützten. Er brauchte mich, musste aber dafür sorgen, dass mir die Handlungsmöglichkeiten genommen wurden. In mir sah er immer seinen Gegenspieler. Ich hatte die Ideen, zog die Menschen an und er verwirklichte sie. Die Rolle war ihm schlicht zu gering.«
Chris nickte. »Er degradiert das Individuum zur Marionette. Genau genommen ist seine Macht die Lüge oder die Halbwahrheit. Er versorgt seine Anhänger damit und erreicht dadurch ihren Gehorsam.«
Nachdenklich ließ sich Camilla alles durch den Kopf gehen, was sie gehört hatte. Viele Vermutungen fanden Bestätigung. Amadeo war der Manipulator, dessen Ziele außerhalb des für sie verständlich Greifbaren lagen. Letztlich begriff sie aber, warum sich Amadeo mit solcher Vehemenz auf Nathanael stürzte. Sein Wissen und seine Informationen konnten seinen Anhängern die Augen öffnen.
»Sie sagten, dass ich für Amadeos Pläne wichtig bin, um seinen Puppen das ewige Leben zu schenken. Das bedeutet für mich, dass er Sie nicht mehr braucht.«
Nathanael nickte, ohne sie anzusehen.
»Für ihn ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich nicht mehr nützlich bin. Auch Christoph hat ein Wissen erlangt, das Amadeo eher gefährdet als hilft. Den größten Nutzen, den er aus Christoph ziehen kann, ist sein Tod. Amadeo würde ihn zu einem Märtyrer hochstilisieren, wenn eines meiner Wesen oder ich ihn töteten. Damit hätte er einen unkontrollierbaren Mob, der meine Behausungen vernichtet.«
Camilla fuhr zusammen. Instinktiv umklammerte sie Chris. »Dafür muss er erst mal an mir vorbei.«
Chris drückte sie. »Ich glaube, Amadeo geht eher davon aus, dass Grimm oder Nathanael das erledigen.«
Erstickende Angst zerdrückte ihr Herz. Bei Nathanael war sie sich sicher, dass
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