Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
gefahren.«
Camilla seufzte. »Du hast nicht zufällig einen Schlüssel?«
Sie stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ den Kopf in die Hände sinken.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht dabei. Der liegt im Spind in der Klinik.«
Sie hob den Daumen. »Sehr gut.«
Eigentlich wollte sie weder ironisch noch boshaft klingen, aber in ihrer Erschöpfung fand sich kaum noch Platz, aus ihrem Herz eine Mördergrube zu machen.
»Hast du eigentlich auch Urlaub?«
Chris schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich darf ich mir demnächst die Kündigung abholen.«
Die Worte erschreckten sie. »Du bist wegen mir nicht zur Arbeit gegangen, oder?«
»Wegen dir, wegen Amadeo, Nathanael, Grimm – such es dir aus. Früher oder später wäre dieser Fall eingetreten. Es war nur eine Frage der Zeit.«
»Aber dein Job …«
»Ich finde schon was, mach dir mal keine Gedanken. Davon abgesehen geht es nun um wesentlichere Dinge als eine Pfleger-Anstellung. Die nützt mir nichts mehr, wenn ich den Löffel abgegeben habe.«
»Chris, red doch keinen …«
»Camilla, du zweifelst selbst, dass wir diese Sache überleben. Sei ehrlich, dann ist der Job ohnehin bedeutungslos.«
Betroffen schwieg sie. Leider trafen seine Worte ins Schwarze. Selbst wenn sie die Flucht ergriffen, würden sie Berlin auf Nimmerwiedersehen den Rücken zukehren. Was die Zukunft brachte, konnte sie nicht erraten. Für den Moment wollte sie sich mit jeder Prognose zurückhalten. Je nach Stimmung schuf sie ein mögliches Szenario. In ihrer momentanen Verfassung wäre das der klassische Worst Case.
»Denk erst mal nicht daran, okay?« Chris lächelte aufmunternd. »Wenn alles gut geht und wir irgendwann endlich wieder klarer sehen können, haben wir die Möglichkeit, Pläne zu schmieden.«
Wahrscheinlich las er die Zweifel nicht nur in ihren Augen. Er schüttelte seufzend den Kopf. »Liebes, in Frankfurt wird es sicher auch ein paar Krankenhäuser geben, die Pfleger suchen.«
Camilla musste grinsen. »Du Spinner.«
Mit einer wegwerfenden Handbewegung beendete Chris das Thema.
»Ich bin schon wieder kurz vorm Verdursten.« Sie vergrub den Kopf in den Armen. Das Gefühl wurde langsam zu einem Zwang. Müdigkeit und Hunger konnte sie gerade noch so verkraften. Aber die Trockenheit in ihrem Mund war unerträglich.
Sie hörte Chris’ schwere Stiefel auf den Betonstufen. Sein Schatten fiel über sie. Es tat gut, nicht direkt in der grellen Sonne zu sitzen.
»Bleib so«, murmelte sie.
Chris lachte leise und reichte ihr den Rest in seiner Wasserflasche.
»Willst du nicht mehr?«
»Trink«, sagte er und setzte sich zu ihr. Camilla öffnete den Schraubverschluss. Sie bewunderte seine Selbstbeherrschung. Sicher hatte er brennenden Durst. Sie trank einen kleinen Schluck und behielt das Wasser einen Moment im Mund, bevor sie es schluckte. Es schmeckte warm und schal. Trotzdem tat es gut.
Gründlich verschloss sie die Flasche und reichte sie ihm.
»Danke dir.«
»Nicht mehr?«, fragte er verwundert.
Sie schüttelte den Kopf. Er nahm ihr das Wasser ab und stellte es in den Schatten der Pflanzsteine. Schließlich nahm er sie in die Arme.
Erschöpft sank ihr Kopf gegen seine Schulter. Sie bemerkte schwach, dass ihre Gedanken fortdrifteten und sich in dunstiger Schwärze verloren.
Diese Fähigkeit, andere Menschen ins Leben zurückzuholen, war außergewöhnlich, wunderbar. Chris lebte. Daraus ergab sich die Frage, warum sie Theresa nicht zurückholen konnte. Schließlich liebte sie ihre Freundin doch auch. All die gemeinsamen Erinnerungen und Erlebnisse mussten doch genauso schwer wiegen, oder nicht? Warum machte ihre Gabe hierbei eine Ausnahme?
Möglicherweise lag es an dieser außergewöhnlichen Stadt. Ancienne Cologne hatte trotz schlechter Erlebnisse einen tiefen Eindruck in ihr hinterlassen. Ihr Bewusstsein erweiterte sich mit jeder Stunde. Der Zauber des versunkenen Ortes war stark.
Amadeo – hatte er die Fähigkeit in ihr geweckt? Schließlich brachte er zusammen mit Nathanael das Kunststück fertig, dort unten leben zu können.
Beiden musste diese Gabe zu eigen gewesen sein, nur auf unterschiedlichem Weg. Nathanael weckte die Träume, Amadeo realisierte sie. Wo lagen die Grenzen der beiden alten Männer? Wo lag ihre Grenze? Was konnte sie bewegen?
Konnte sie vielleicht nur das ändern, was gerade geschah? Ihr war bewusst, dass sie sich Herzenswünsche erfüllen konnte. Bislang sprach alles dagegen, die Vergangenheit zu ändern. Irgendwann, bei unwichtigen
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