Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
ein, nur um eine andere Treppe hinunterzugehen. Gemeinsam betraten sie eine wesentlich hellere Station, die mehr Platz bot. Chris blieb unter einer blau eingerahmten Anzeigentafel stehen. Camilla ließ sich gegen eine Säule sinken. Mit beiden Händen fuhr sie sich über das Gesicht. An den ehemals weißen Verbänden blieben Schweiß und Staub hängen.
»Was nun? Wolltest du nicht bei Melanie anrufen?«
»Das kann ich jetzt vergessen. Hier gibt es keine intakten Fernsprecher.«
Camilla ließ sich neben einer älteren Dame auf die Kante einer Bank fallen. »Du brauchst ein Handy, Chris.«
Sie meinte es ernst, allerdings winkte er ab. »Zumeist bin ich nicht erreichbar. In der Klinik geht das nicht, weil da Handyverbot herrscht, zu Hause habe ich keinen Empfang und ich bin so chaotisch, dass ich es ohnehin verlieren würde.«
Seine Worte verdeutlichten ihr, dass er ein eigenes Leben hatte. Er lebte in und unter Berlin. Sollten sie diese unmögliche Situation überstehen, würden sich ihre Wege trennen. Der Gedanke versetzte ihr einen Stich.
Chris kniete sich vor sie. »Camilla …« Seine rauen Finger strichen über ihre Wange.
»Lass gut sein.« Sie schob seine Hand fort.
Wenn je wieder alles ins Lot kam, würde er hierbleiben und leben wie bisher. Ein Zusammensein kam nicht infrage. Sie lebte in Frankfurt, hatte ihren Studienplatz fest und würde kaum nach Berlin ziehen wollen. Davon abgesehen musste sie sich früher oder später allen Querelen stellen, die aus Theresas Tod resultierten. Die Trennung wäre unausweichlich.
Tränen brannten in ihren Augen. Sie konnte ihn nicht halten. Alle Umstände sprachen dagegen.
Diese elende Übersensibilität kam sicher von der Erschöpfung. Bevor sie heulte, versuchte sie, den Gedanken von sich zu schieben und sich mit anderen Dingen zu befassen.
Betroffen erhob Chris sich. Er schwieg.
»Kann Melanie uns helfen?« Camillas Stimme wankte.
Verdammt, wenn es ihr nicht gelang, sich wieder zu fassen, würde sie sich gleich in Tränen auflösen.
Chris strich ihr über beide Wangen, bevor er sich zu ihr neigte. Die Berührung seiner Lippen war nur ein schwacher Hauch, kaum mehr als ein Flügelschlag, dennoch elektrisierte Camilla bis in die Fingerspitzen.
Ich bleibe bei dir, bis ich sterbe.
Die Worte sprach er nicht aus. Dennoch hörte Camilla sie genauso deutlich. Ihr Herz flatterte. Zugleich breitete sich unglaubliche Ruhe und Sicherheit in ihr aus. Seine Stärke hallte in ihr nach.
»Bei Melanie finden wir etwas Ruhe«, sagte er, wobei er an Camillas Frage anschloss. Bis auf ein deutliches Funkeln in seinen Augen wies nichts auf sein stummes Gelöbnis hin. »Erreichen kann ich sie nicht, also fahren wir direkt zu ihr.« Chris deutete auf die S-Bahn-Anzeige.
»Was machen wir, wenn sie nicht da ist?”
Chris hob die Schultern. »Warten. Ich habe nur keine Sehnsucht, irgendwo von Grimm oder seinem durchgeknallten Liebchen abgefangen zu werden, wenn wir zur Klinik fahren.«
»Besteht die Gefahr nicht auch bei ihr zu Hause?«
»Schon, aber da habe ich einen ganzen Vorort, um meine Verfolger loszuwerden und bringe keine Patienten in Gefahr.«
Camilla nickte. Dennoch war sie sicher, dass Grimm Melanies Adresse kannte und sicher auch wusste, dass Chris mit ihr befreundet war.
»Bringen wir sie nicht auch in Gefahr?«
»Ist sie das nicht schon längst?«
Camilla dachte eine Weile über seine Worte nach. Wenn Grimm sie unten in Ancienne Cologne gesehen hatte, war sie garantiert in Gefahr. Chris und sie mussten mit ihr sprechen. Melanie war die einzige Person, der Camilla noch traute. Ein logischer, freundlicher und warmherziger Mensch wie sie war vielleicht ihre Chance, etwas Abstand zu gewinnen und Ruhe zu finden. Sie konnte ihnen vielleicht helfen, die Informationen auszusieben und die richtigen Puzzlestücke zusammenzusetzen.
Die Vorstellung gefiel ihr. Sie freute sich richtiggehend auf Melanie. Für einen Moment erwog sie sogar, ihr alles zu erzählen, was sie bislang über ihre Fähigkeiten wusste, verschob die Idee aber. Melanie konnte schon nicht glauben, was Amadeo sagte. Wie würde sie darauf erst reagieren?
Chris strich über ihren Rücken.
»Gib Melanie eine Chance, es zu verstehen, okay?«
Mit was? Kartentricks? Der Gedanke war eigentlich nicht einmal so abwegig. Letztlich konnte sie die mentale Verbindung Christophs zu ihr auf diesem Weg nachweisen. Ob Melanie diese Vorführung über sich ergehen lassen würde, ohne zu zweifeln, stand allerdings in
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