Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
inwieweit deine Erinnerung den Selbstmord verändert hat, aber anhand dessen, was ich sehen kann, war der Mann ein Freund von mir.«
Alles Blut wich aus Camillas Wangen. »Was?«
Chris winkte ab. »Pascal und ich kannten uns aus dem Erziehungsheim. Er war nicht gerade mein engster Freund, okay?«
»Hast du ihn denn gar nicht vermisst?«
Chris schüttelte den Kopf. »So oft haben wir uns nicht gesehen, nur manchmal, auf der Arbeit.«
»Er war auch dein Kollege?«
»Zivi«, entgegnete Chris.
Sie ließ sich neben ihn fallen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »War er denn jünger?«
Chris nickte. »Vier Jahre. Er hing seit dem Heim wie eine Klette an mir, rannte mir nach und kopierte mich. Er war einer der Jungs vom Alex.« Mit einer Handbewegung deutete er ein Ziffernblatt an. Camilla erinnerte sich der scheußlichen Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz und nickte.
»Pascal war damals zehn, als Grimm mich erwischte. Er entkam. Als ich wieder da war, klebte er noch stärker an mir, heulte, sobald ich wegging und ließ mich nicht mehr nach Ancienne Cologne. Dabei musste ich damals Amadeo und Olympia dringend Bescheid geben.«
Eine böse Vorahnung erwachte.
»Du bist doch irgendwann gegangen und er ist dir gefolgt?«
»Ganz genau.« Chris atmete tief durch.
»Damit ist er kein Unbekannter in Ancienne Cologne?«
»Er besaß eine schwache Begabung, die Amadeo fördern wollte.«
Erschrocken fuhr Camilla auf. »Genau so wie ich?«
»Empathie, Liebes. Er war ein sehr sensibler, viel zu labiler Junge, den Ancienne Cologne zutiefst faszinierte. Er liebte die Stadt, verehrte Amadeo und verliebte sich ausgerechnet in Amelie.«
Seine Hand tastete nach ihrer. Ihre Finger verschränkten sich ineinander. »Als Amadeo begriff, dass er Pascal vergebens ausbildete, wurde er wütend, sah aber Vorteile, die er aus der Freundschaft ziehen konnte. Schließlich besorgte Pascal ihm viele Informationen, klaute für ihn und nahm alles auf sich, nur um Amelie zu beeindrucken.«
Mitleidig schüttelte sie den Kopf. »Der Arme hat nicht begriffen, dass er ausgenutzt wurde.«
»Er war glücklich, Amadeo alles zu ermöglichen. Das war der Moment, wo wir massiven Streit bekamen. Ich bin da unten aufgewachsen und weiß, wie das System funktioniert. Auf meine Brüllerei antwortete er damals: Du bist nur neidisch, weil du schon zu viele Fehler gemacht hast und unbrauchbar bist. Mit meinem schallenden Gelächter kam er nicht klar. Wir haben uns wieder zusammengerauft, aber es hat ein paar Jahre gedauert.«
»Wann habt ihr euch wiedergesehen?«
»In der Charité«, entgegnete er. Für Sekunden verfiel er in Schweigen. Er spannte sich offenbar wieder an. Instinktiv suchte er nach Zigaretten. Wahrscheinlich hatte Melanie das beinah leere, zerknitterte Päckchen weggeworfen oder unten liegen. Er fand nichts.
Camilla fasste seinen Arm. »Was ist passiert?«
»Pascal wurde mit mehreren schweren Knochenbrüchen eingeliefert. Es war Zufall, dass er im Bett an mir vorbeigerollt wurde. Mir fiel es nicht schwer, herauszufinden, in welchem Zimmer man ihn untergebracht hatte. Ich bin in der Nacht zu ihm gegangen. Pascal war vollkommen fertig. Er erzählte von gefährlichen Aufträgen, die er für Amadeo erledigte. So, wie er aussah, stand außer Frage, dass er die Wahrheit sagte.«
»Klar. Wie ist das denn passiert?«
»Er hatte einen Zusammenstoß mit Grimm, der ihn wohl beim Klauen erwischte. Allerdings wollte mir Pascal nicht sagen, um was es ging.«
Er hat sich damit nicht wichtig gemacht, schoss es Camilla durch den Kopf. Wahrscheinlich durfte er nichts sagen, um Chris nicht schon viel früher gegen Amadeo aufzubringen.
»Wahrscheinlich war das auch der Grund.« Er stand auf und trat ans Fenster. »Danach ging er seltener nach unten und blieb viel öfter in meiner Nähe. Der Status Quo war damit wiederhergestellt. Er hing in alter Tradition an mir.«
»Wahrscheinlich suchte er Schutz bei dir, denn er vertraute dir und du warst sein Vorbild.«
»Ein echt beschissenes Vorbild, glaub mir.« Er schüttelte die langen Strähnen nach hinten. Sein Haar war bereits trocken.
»Vielleicht war sein letzter Auftrag, das Perspektiv zu stehlen.«
Chris wandte sich ihr zu. Er wirkte gequält. »Er hat in jedem Fall einen Auftrag ausgeführt und ist dabei gestorben.«
»Das Fernrohr?«
Er nickte. »Das ist noch bei der Polizei?«
»Ja.« Camilla stand ebenfalls auf und trat zu ihm. »Du liest keine Krimis, wie? Das Ding ist in der
Weitere Kostenlose Bücher