Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Allerdings entledigte er sich zumeist schon auf dem Weg zum Auto der Krawatte und Jacke. Die Selbstdisziplin von Melanies Gefährten brachte er in keinem Fall auf.
Der Mann neigte sich über den Tisch und nahm einen Schluck aus Melanies Glas.
»Dieb!« Melanies Stimme drang gedämpft hinauf. Sie lachte.
Ohne zu antworten zog er sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Melanie erhob sich. »Ich gehe dir ein Glas holen.«
Er drehte sich halb um und nickte. Camilla wich eilig zurück, als seine Augen ihren Blick für einen Moment einfingen. Es war ihr peinlich, dass er sie beim Lauschen erwischt hatte. Zugleich ärgerte sie sich ein wenig, dass Chris sie nicht darüber in Kenntnis gesetzt hatte.
Sie trat in den Flur und sah sich um. Von dem quadratischen Raum gingen mehrere Türen ab. Treppen wendelten sich in das Dachgeschoss und hinab ins Parterre. Gegenüber dem Bad befand sich das Gästezimmer, in dem Chris mit ihr untergebracht worden war. Sie hörte ihn nicht. Vorsichtig spähte sie durch die Tür. Er saß auf der Bettkante und blätterte in einem Buch.
Als sie eintrat hob er den Kopf. »Wieder sauber?«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Melanie verheiratet ist?«, fragte Camilla.
»Oh, Ralph? Das ist ihr Freund. Der arbeitet in der Woche in Hamburg und kommt nur am Wochenende nach Berlin.«
»Wie viel weiß er? Kennt er Amadeo?«
Chris wiegte den Kopf. »Da ich oft hier bin, weiß er von mir. Offiziell bin ich Melanies elternloser, schwer erziehbarer Neffe. Von Ancienne Cologne weiß er wahrscheinlich nichts.« Er setzte sich auf und schlug das Buch zu. »So, wie er sich verhält, glaubt er uns nicht. Melanie ist eine schlechte Lügnerin und mir nimmt er den Neffen auch nicht ab.«
»Warum?«, fragte Camilla und setzte sich zu ihm.
»Weil Melanie keine Geschwister hat.«
Camilla schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Sorry, das ist echt hohl.«
Chris hob die Schultern. »Wahrscheinlich denkt er, dass sie mich vor fünfzehn Jahren aus Mitleid von der Straße aufgegabelt hat.«
Camilla zog die Brauen zusammen. »Oder er ist eifersüchtig. Du bist jung, ausdauernd und ziemlich routiniert im Bett.« Ihr lag auf der Zunge, zu fragen, woher er so viel Übung hatte. Wenn sie ehrlich war, wollte sie gar keine Antwort, bevor er sie unfreiwillig verletzte und sie sich affig verhielt.
»Ich habe nie mit Melanie geschlafen«, sagte er ernst.
Blut schoss in ihre Wangen. Sie fächelte sich mit ihrer frisch verbundenen Hand Luft zu.
»Ich will nicht, dass du darüber im Unklaren bist, Camilla.« Seine Stimme klang eindringlich.
»Schon okay, ich hatte auch einige Kerle, mit denen ich …«
»Ich war nie mit jemand anderem zusammen. Im Lauf der Jahre auf der Straße hatte ich ziemlich viel wechselnde Partnerinnen und Partner, mit denen ich meinen Spaß hatte, bestimmt waren es fünfundzwanzig oder dreißig. Ich wollte aber nie mit einem anderen Menschen meine Geheimnisse und mein Leben teilen.«
Viele Partner? Frauen und Männer?
Seine Worte schnitten tief. Ihre Kiefer pressten sich aufeinander.
Er strich über ihre Wange. »Du hast meine Geheimnisse miterlebt und bist selbst das größte davon geworden, Camilla. Ich liebe dich. Was ich sagte, wird passieren. Ich werde bis zu meinem Ende bei dir bleiben.«
Seine Wärme und Offenheit heilte den Schnitt. Wortlos schmiegte sie sich an ihn. Sie wollte seine Nähe auskosten. Das war nicht der Moment, um Sex zu haben, sondern um einander nah zu sein, so nah, wie kein anderes Paar sich kommen konnte.
Chris ging duschen. Sie beschloss, auf ihn zu warten. Er hatte ihr genügend zu denken gegeben. Obwohl sie sich glücklich fühlte, bohrte das neue Wissen in ihr. Sie schüttelte den Gedanken ab. Gab es nicht Wichtigeres, als sich über Christophs Vergangenheit Gedanken zu machen?
Das, was sie von Amadeo und Nathanael gehört hatte, ging ihr auch jetzt noch nach, ganz ähnlich wie der Traum.
Sie ließ sich auf das Schlafsofa sinken. Auf Kopfhöhe lag neben ihr das Buch, in dem Chris zuvor geblättert hatte.
Es war eine leinengebundene Ausgabe des Sandmanns. Wenig verwundert schlug sie die Schmutzseite auf und strich über das vergilbte Papier. Es fühlte sich rau an, ganz anders als die pergamentartigen Seiten von Amadeos Gerichtsakten.
Was unterschied die erschienene Ausgabe vom Original? Wie gern hätte sie jetzt das erste Manuskript gelesen. Lustlos blätterte sie in dem Büchlein.
Während sie die ersten Zeilen überflog,
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