Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
Zweifel stand ihnen in die Gesichter gemeißelt. So unterschiedlich die beiden Männer von ihrer Persönlichkeit waren, darin glichen sie einander. Sie waren beide Skeptiker.
Ralph lehnte sich interessiert zurück. Es wirkte, als wollte er eine gute Show genießen.
Melanie wurde nervös. »Bernd, bitte, das sollte nicht aufgezeichnet werden.«
»Warum?«
Bevor die Ärztin antworten konnte griff Camillas Vater nach dem Aufnahmegerät und schaltete es ab.
Verwirrt beobachtete sie ihn. Was sollte das? Klar, sie konnte Melanies Einwand verstehen, aber ihr Vater reagierte über.
Weißhaupt griff nach seinem Tonband, doch ihr Vater zog rasch die Hand weg.
»Was soll das?«
»Ich will nicht, dass etwas darüber bekannt wird.«
Drohend richtete sich Habicht auf. »Sie wissen, dass Sie unsere Arbeit aktiv behindern, sich strafbar machen, und wir anhand Ihres Verhaltens eine Ermittlung gegen Sie einleiten können?«
Ihr Vater nickte. Er wirkte bleich, aber gefasst. »Ich will trotzdem nicht, dass das, worüber Camilla redet, aufgezeichnet wird.«
Irritiert ließ sie sich in den Stuhl sinken. Was sollte das alles? Was wusste ihr Vater von Ancienne Cologne?
»Ich kann meiner Tochter auch sagen, dass sie erst in Gegenwart eines Anwaltes aussagt. Aber in der Zeit haben wir die Möglichkeit, uns eine plausible, wenn auch erlogene Geschichte auszudenken.«
Er kannte die Geheimnisse um Berlins Unterwelt und die Morde. Eine frostige Gänsehaut rann über ihren Rücken.
»Dann sollten wir das Gespräch hier abbrechen«, sagte Weißhaupt. Seine Miene verdüsterte sich.
»Nein. Ich will reden, ansonsten hören die Morde nie auf.«
Die Hände ihrer Mutter zitterten, als sie nach ihrem Weinglas griff. Es entglitt ihr. Die dunkle Flüssigkeit ergoss sich über den Tisch.
Wie Blut, dachte Camilla schaudernd. War das ein Omen?
Melanie stand auf und griff nach Servietten, um den Wein aufzutupfen. Habichts Hand schoss vor. Er umklammerte ihren Arm und zog sie in den Sessel zurück.
»Langsam. Was wird hier gespielt? Ich will endlich die Wahrheit hören.«
Ralph schlug Habichts Hand fort. Der Beamte funkelte ihn wütend an.
»Melanie, ich will auch wissen, was hier läuft.« Weißhaupt neigte sich nach vorn. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wir sind einem Mörder auf der Spur, der bereits mehr als zwanzig junge Frauen umgebracht und verstümmelt hat.«
O Gott! Waren es wirklich so viele? Wozu brauchte Nathanael all die Körper?
Die Antwort war klar. Er baute sich eine Frau aus Leichenteilen, die er beleben wollte. Das Geschöpf, das Grimm ihr in dem Traum unvorsichtigerweise präsentiert hatte. Allein der Gedanke ließ sie würgen.
»Wir haben es mit einem Wahnsinnigen zu tun, der eine Mordserie kopiert, die schon bald Tradition in Berlin hat.« Weißhaupt fiel es offenbar schwer, weiterzureden.
Habicht nickte. »Diese Serienmorde stimmen fast exakt mit Taten überein, die erstmals 1822 in Berlin schriftlich niedergelegt wurden.«
Camilla bemerkte, wie die Nervosität ihrer Eltern stieg. Fraglos wussten sie von den Morden und Nathanael. Auch Chris schien das seltsame Verhalten Sorgen zu bereiten. Habicht folgte seinem Blick. Unnachgiebige Härte spiegelte sich in seinem Gesicht wider. Er war wütend und Camilla verstand ihn. Sie fühlte sich nicht weniger hintergangen als er.
»Ich möchte gern etwas wissen«, sagte sie, wobei sie den jungen Kommissar fokussierte. »Wie oft sind diese Morde verübt worden?«
Habicht gab ein unwilliges Knurren von sich. Unmerklich nickte ihm Weißhaupt zu.
»Zu oft«, entgegnete Habicht.
»Das ist keine Antwort.« Chris verschränkte ärgerlich die Arme vor der Brust.
»Das sind Interna, die Außenstehende …«
»Matthias.« Weißhaupt schüttelte den Kopf. »Das ist Geschichte.«
»Es geht um etwas über zweihundert Frauen und Mädchen, die auf die gleiche Weise ermordet wurden«, antwortete Habicht mit ausdruckslosem Gesicht. »Das war in den Jahren 1822, 1870 bis 1873, 1901, 1922, 1930 bis 1933, 1954, 1967 und jetzt wieder. Wahrscheinlich sind viele Unterlagen in den Kriegen zerstört worden. Es würde mich nicht wundern, wenn die Nachahmungstäter die beiden Weltkriege für sich genutzt hätten.« Er klang resigniert.
Kälte kroch durch Camillas Adern. Sie verstand erst jetzt die Ausmaße der Perfidität, zu der Amadeo fähig war. Hilflose Wut und tiefe Angst überlagerten das Grauen, das sie anfangs vor Grimm und Nathanael empfunden hatte. Amadeo trug die
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