Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
habe ich ihm geholfen, seiner Strafe zu entkommen.« Amadeos Geständnis schockierte sie nicht sonderlich.
»Wann war das?«, fragte Chris.
»1817«, sagte Amadeo.
»Du kannst aber erst ab 1822 hier unten gelebt haben.«
»Dann ist der Sandmann der Begründer dieses Ortes?«, fragte Melanie.
Amadeo nickte. »Er lebte hier mit Olympia.«
»Aber sie waren nicht glücklich.« Camilla hatte Olympias Worte nicht vergessen: Ich bin nur eine von vielen Puppen, war aber die Erstgeschaffene. Er hat nach mir noch viele andere gebaut, in der Hoffnung, dass sie ihm dienen und ihn lieben. Aber sobald er ihnen Seelen gab, begannen sie, ihn zu fürchten und versuchten, zu fliehen.
»Olympia fürchtete ihn, weil er für sie zum Mörder wurde.« Camilla fühlte die Blicke aller auf sich. Sie hatte den Gedankengang ausgesprochen. »Damals war er nur ein einfacher Mann, der die Liebe eines künstlich geschaffenen Traumes erlangen wollte. Dafür tötete er.«
Amadeo nickte. Um seinen Mund lag ein bitterer Zug. »Ich hatte Mitleid mit Nathanael. Er war ein intelligenter Mann, der mich faszinierte. Je mehr ich mich mit ihm befasste, desto stärker geriet ich in den Sog seiner verrückten Träume. Ich hatte zeitlebens viel Fantasie und große Ambitionen, weshalb ich mich in ihm wiederfand.«
Dass es sich dabei nur um einen rhetorischen Schachzug handelte, stand außer Frage. Camilla fühlte sich manipuliert. Amadeo führte eine Show auf, von der sie sich nicht beeindrucken lassen wollte.
»Durch Nathanael verlor ich den Bezug zur Wirklichkeit. Er besaß die unglaubliche Gabe, seine und meine Träume miteinander zu verknüpfen. Er pflanzte seine Ideen in mein Herz. Ich habe ihm geholfen, seinen Tod vorzutäuschen.«
Camilla horchte auf. Also hatte Amadeo mehr getan als ihm die Flucht zu ermöglichen. Leider ging er nicht weiter darauf ein, gab ihr auch keine Chance, nachzufragen, sondern spielte sein salbungsvolles Drama weiter. Sie legte ärgerlich die Stirn in Falten und nahm sich vor, ihn noch einmal darauf anzusprechen.
»Er verbarg sich hier unten und baute seine eigene Welt. Ein Wunderwerk seiner Ingenieurkunst. Einen fantastischeren Baumeister hatte es nie zuvor gegeben.« Amadeo griff nach einem Taschentuch, um sich die Augen zu betupfen.
Christoph stöhnte gequält auf.
Der Alte überging ihn. »Erst durch Lothar, den Bruder seiner Verlobten Clara, bin ich der Wahrheit auf die Spur gekommen. Wir fanden etliche Tage nach Nathanaels Flucht Claras grauenhaft zugerichteten Leichnam in der Spree.« Amadeos Stimme brach. Er hustete.
Amelie schob den Teebecher in seine Hand. »Trink.«
Er folgte der Aufforderung. »Meine Arbeit bei Gericht verfolgte ich nur noch kurze Zeit. Ich konnte kaum publik machen, was ich getan hatte, aber mein Gewissen ließ mich nicht ruhen. Schließlich schrieb ich Nathanaels Geschichte nieder.«
»Der Sandmann verläuft allerdings gravierend anders«, sagte Camilla.
»Das Original nicht. Darin ist Nathanael sogar weitaus schrecklicher, als er es in Wirklichkeit war. Mein Verleger lehnte die blutige Geschichte ab. Ich musste sie für ihn ändern.«
Elektrisiert straffte sich Camilla. Einerseits widerstrebte ihr sein Erfolgsdurst, zugleich brannte Neugier in ihr. »Haben Sie das Original noch?«
»Ja. Mit den Zeilen habe ich vermutlich auch das eigentliche Monster geschaffen.«
»Wie?«, fragte Camilla. Ihr Interesse verdrängte nun alle anderen Fragen. Chris’ Hand wurde feucht. Er spannte sich.
»Das ist der Punkt. Der Sandmann – Nathanael – war vorher nichts Besonderes, genauso wenig wie ich. Aber durch das, was ich geschrieben habe, begannen wir uns zu verändern.«
Camilla erstarrte. In ihren Ohren setzte ein Geräusch ein, das an einen grellen Störton erinnerte. Ihr schwindelte. Für einen Moment wusste sie genau, was er meinte. Doch der Gedanke verschwand, bevor sie ihn ergreifen konnte. Im gleichen Moment ließ das Pfeifen nach. Irritiert strich sie sich mit beiden Händen über die Augen und massierte ihre Schläfen. Ihr Herz raste, als wäre sie erneut auf der Flucht vor Nathanael. Gerade eben hatte sie ein wichtiges Stück Wissen verloren. Verzweiflung machte sich breit. Sie wollte am liebsten losheulen.
Mühsam fing sie sich und stellte die erste Frage, die ihr in den Kopf kam. »Sie können die Wirklichkeit manipulieren?«
Er schüttelte den Kopf. »Würde ich sonst zulassen, dass dieses Ding Jagd auf junge Frauen macht?«
Theresas Leichnam kehrte sehr bildlich vor ihr
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