Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
die aufgestaute Energie für Chris einzusetzen. Sie kümmerte sich um Essen und Tee. In der Kanne lagen bereits die Pfefferminzblätter, auf einem großen Kunststoffbrett butterte sie Brote. Camilla war nie sonderlich häuslich veranlagt gewesen. Sauberkeit ja, kochen und backen nein. Sie wusste, wie kreativ man mit Nahrungsmitteln arbeiten konnte, aber ihr Medium waren Stift und Papier. Sie kam auch nicht wirklich gut in Chris’ improvisiertem Küchenchaos zurecht. Mit dem Brenner konnte sie umgehen, aber viele der Geräte, die er sein Eigen nannte, kannte Camilla bestenfalls von ihrer Großmutter.
In dem alten Milchkessel kochte bereits das Wasser. Blasen spritzten hoch und verteilten Tröpfchen auf der Anrichte.
Leise fluchte sie.
Eilig ließ sie das Messer fallen und zog sich die Ärmel ihrer Jacke über die Finger.
Als sie den Emaillegriff anfasste, zog die Hitze dennoch in ihre Hand.
»Verdammt!«, murmelte sie und stellte den Gasbrenner ab, bevor sie einen weiteren Versuch startete, den Milchtopf hochzuheben.
Sie sah sich eine Weile in der Küche um. Chris’ Ausstattung ließ wirklich zu wünschen übrig. Topflappen fehlten in jedem Fall. Schließlich zog sie ihre Jacke aus und wickelte sie um den Henkel. Damit funktionierte das Teeaufgießen endlich.
Sie stellte den Kessel ab und belegte die Brote fertig.
Ihre Gedanken schweiften ab. Seit Olympia und zwanzig menschliche Bewohner Ancienne Colognes in das alte Haus eingedrungen waren, wurde Camilla das Gefühl nicht los, dass etwas mit diesem Ort nicht stimmte. Die Begegnung mit dem Sandmann … was passierte doch gleich?
Camilla spürte, dass sie nur ein winziges Stück von der Wahrheit entfernt lag.
Nathanael hatte sich verändert. Sie erinnerte sich an das Gefühl, das er hinterließ.
Aber was … mit Urgewalt brach die Erinnerung über sie herein. Camilla taumelte zurück. Bilder, Worte, Gedanken und Gefühlsfetzen drängten auf sie ein.
Von einer Sekunde zur anderen wusste sie alles. Sie erinnerte sich an den Kampf und Christophs schwere Wunde. Er starb, nein, war tot … Camilla presste beide Hände gegen die Schläfen. Grimm war eine Maschine, die man an- und abschalten konnte und Nathanael wollte ihr etwas sagen.
Erneut zuckte sie zusammen. Sie begriff, wer ihr die Erinnerungen genommen hatte – Amadeo.
Das Warum konnte sie sich selbst beantworten. Als sie Christophs Leben rettete, hatte sie die Wirklichkeit verändert. Das alles erschien ihr noch immer viel zu unglaublich und dennoch war da die Überzeugung tief in ihr, dass es stimmen musste. Oder sie war dabei, den Verstand zu verlieren.
Camilla stützte sich auf der Tischplatte ab und schloss die Augen. Andreas Grimm hatte erwähnt, dass sie in seinen Gedanken gewesen war.
Ihre Hände tasteten nach der Taschenlampe, die sie mitgenommen hatte. Bevor sie realisierte, was sie tat, schlossen sich ihre Finger um den Schaft.
Camillas Nerven flatterten. Der Lichtstrahl ihrer erbeuteten Taschenlampe strich über den zertrümmerten Tisch und die Blutspuren, die sie und Chris hinterlassen hatten. Der Raum war ein einziges Horrorszenario. Wer nicht wusste, was hier geschehen war, tippte sicher auf den Ort eines Verbrechens. Faktisch stimmte die Annahme sogar.
Sie wollte zu Nathanael. Er hatte ihr eine Höllenangst eingejagt, als sie in der Bibliothek vor ihm geflohen waren, doch beim letzten Zusammentreffen wirkte er verändert. Sie konnte nicht genau sagen, was. Vielleicht hatte sie gespürt, dass Nathanael eine weitere von Amadeos Marionetten war. Jedenfalls hatte er ihr nichts angetan und die subtile Angst vor Amadeo war größer als die greifbare Furcht vor dem Sandmann.
Camilla nahm die Trümmer unter die Lupe. Dieser Ort war der einzige Ansatz, an den sie von Olympia und den anderen Stadtbewohnern unbemerkt herankam. Den Weg zur Bibliothek konnte sie derzeit nicht nutzen. Amadeo hielt sich in seinem Haus auf und bewachte den Schlüssel wie ein Zerberus.
Sie war sich nicht sicher, ob der Alte sie überwachte. Wahrscheinlich schon. Seinen Fähigkeiten schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Wenn er ihren Besuch bei dem Sandmann verhindern wollte, musste sie damit rechnen, dass er ihr jemanden hinterherschickte. Sie knirschte mit den Zähnen.
Unterschwellig rumorte ihre Angst. Sollte sie sich irren und ihr Gefühl sie trügen, würde sie nie wieder zurückkehren. Ein Gedanke, der ihr nicht behagte. Allerdings behagte es ihr noch weniger, die Flinte ins Korn zu werfen. Das war
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