Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
nicht ihrer Eltern Tochter. Sie musste handeln, es ging überhaupt nicht anders.
Camilla sah sich im Licht der Taschenlampe weiter um.
Der zertrümmerte Tisch und die abgeknickten Kerzen erinnerten deutlich an den Moment, in dem Grimm das Feuer auf sie eröffnet hatte. Sie schauderte. Eilig ließ sie den Strahl durch den Raum zucken, leuchtete über die Wand, hinter der sie Deckung gesucht hatte. So niedrig war sie ihr vorhin nicht erschienen. Die meisten Gartenmauern waren höher. Ihre Knie wurden weich, als ihr bewusst wurde, dass sie mehr Glück als Verstand gehabt hatte. Für Grimm wäre es leicht gewesen, sie richtig zu treffen. Warum hatte er danebengeschossen? Oder besaß sie wirklich mehr Glück als Verstand?
Hoffentlich lauerte er nicht schon wieder auf sie. Zur Vorsicht trug sie eines von Christophs Küchenmessern bei sich. Ein Gemüsemesser, mehr gab die Auswahl nicht her. Wenn Grimm ihre »Waffe« sähe, würde er sich vermutlich totlachen – insofern er so viel Humor besaß. Sie atmete tief durch und ging weiter. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf einen metallenen Gegenstand. Camilla trat näher. Chris‘ Feuerzeug lag auf dem Boden. Eine feine rote Schicht überzog die verchromte Oberfläche. Christophs Blut. Ihr Herz zog sich zusammen. Sie hob das Feuerzeug auf. An dieser Stelle hatte sich der Boden dunkel verfärbt. Als sie den Strahl der Lampe über den Dreck gleiten ließ, fand sie auch die Spiegelscherbe, die ihr als Waffe gedient hatte. Noch immer brannten die Schnitte, die sie notdürftig verbunden hatte. Zu allem Übel hatten die Wunden nach dem Baden angefangen zu nässen. Es war sicher nicht die beste Idee, ausgerechnet eine Scherbe zu benutzen. Ändern ließ es sich nicht mehr.
Vorsichtig näherte sie sich der Richtung, die Grimm und Nathanael genommen hatten. Dort stand jemand und beobachtete sie. Camilla taumelte zurück. Das Licht der Taschenlampe zuckte unkontrolliert auf und ab, streifte ein Gesicht.
Chris! Reglos sah er sie an. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, Verbände verliefen um den rechten Oberarm und seinen Brustkorb. Außer seiner Hose, einem dünnen Unterhemd und den Stiefeln trug er nichts. Er ähnelte einem Geist, so bleich, wie er war. Irritiert blinzelte er in das weiße Licht. Langsam hob er die Hand vor sein Gesicht.
»Camilla.« Seine Stimme klang belegt.
Sie senkte die Lampe und lief auf ihn zu. Wortlos umschlang sie seinen Nacken und schmiegte ihren Kopf in seine Halsbeuge.
Er erwiderte ihre Umarmung und drückte ihr einen Kuss auf das Haar. Sie löste sich und strich ihm mit der freien Hand über die Wangen. »Wie geht es dir? Als ich losgegangen bin, hast du noch geschlafen.«
Chris legte ihr die Finger über die Lippen, bevor er sie lang und sanft küsste.
Der Knoten der Angst löste sich in ihrer Brust. Chris ging es gut genug, um hier zu sein. Erleichterung machte sich in ihr breit.
Als Christoph seine Lippen von ihren löste, seufzte sie. Seine Nähe tat so gut.
»Ich hatte solche Angst um dich«, flüsterte sie.
»Das weiß ich«, antwortete er leise. »Ich war bewusstlos und habe doch alles klar gesehen.« Er machte eine kleine Pause. »Durch deine Augen. Ich war in deinem Körper.«
Erinnerungsfetzen an Gefühle und Berührungen durchzuckten sie. Seine Seele tastete nach ihrer. Camillas Leben wurde seines.
»Ich habe dich gespürt, Chris.«
Sanft strich er über ihren Rücken.
»Ich war vorhin tot. Du hast die Wirklichkeit verändert. Dein Leben ist nun in mir. Ich kann seit ein paar Stunden durch deine Augen sehen und höre deine Gedanken.«
Was? Hätte er sie nicht fest in seinen Armen gehalten, wäre sie getaumelt. »Aber wie kann das sein?«
Er hob die Schultern. »Du hast in die Wirklichkeit eingegriffen.«
Nachdenklich nickte sie. Die Erkenntnis war nicht brandneu, doch realisieren konnte sie sie noch immer nicht. Sollte sie tatsächlich diese Gabe besitzen? Diese wunderbare und zugleich schreckliche Fähigkeit. Sie hatte schon immer an Übernatürliches geglaubt. Weniger als Theresa, der sie im Stillen Abbitte leistete, denn seit sie nach Ancienne Cologne geraten war, hatte sie ihre Meinung über außergewöhnliche Fähigkeiten gehörig revidieren müssen. Und nicht nur die. Dennoch schien es ihr noch immer unglaublich und viel zu fantastisch, dass ausgerechnet sie mit einer solchen Gabe gesegnet sein sollte. Die Verantwortung, die damit einherging, überstieg ihr Fassungsvermögen.
Warum ausgerechnet sie? Ein
Weitere Kostenlose Bücher