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Glattauer, Daniel

Glattauer, Daniel

Titel: Glattauer, Daniel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Der Weihnachtshund
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das wäre nett«, antwortete sie. Bei der
Verabschiedung gab es überraschenderweise einen Kuss auf den Mund. Das heißt:
Ein Kuss war es zwar nicht, aber die Richtung stimmte.
    Katrin
musste sich eingestehen, dass sie die Situation als aufregend empfand und dass
sich Aurelius mit seiner »Hochzeitsnacht« interessanter gemacht hatte als durch
seine angeborene Weltweisheit und den geerbten Komfort. Es reizte sie, ihn zu
verführen. Nein: Es reizte sie, ihn zu reizen, sie zu verführen. Das war ihr
Programm der Abende sechs bis zehn; nichts Anspruchsvolles, eher ein Unterhaltungsprogramm.
Bei der Auswahl der dazu passenden Garderobe fiel ihr erst auf, wie viel
Gewand sie nicht für sich selbst gekauft hatte.
    Um es zu
verkürzen: Aurelius wusste bald nicht mehr, wo er seine Blicke ruhen lassen und
seine Finger verstecken konnte. Er war verwirrt. Er erzählte nur noch Halbweisheiten;
er war von Katrins körperlichen Provokationen so betört, dass er seine
Ausführungen mitten in Schlüsselsätzen beendete. Er legte die größten aller
großformatigen Zeitungen zur Seite, um sie anzustarren. Er abonnierte ihre
Hände für Streichelorgien. Er schickte ihr Kussmünder in Sekundenintervallen.
Er himmelte sie an.
    Er lud sie
von nun an täglich ein, bei ihm zu übernachten. (Sie sagte täglich zu.) Wenn
sie sich auszog, drehte er sich um. Es gab heftige Umarmungen im Bett. Er
schnaufte zwar und seufzte und stöhnte, aber er berührte sie nie so, dass ihm
dabei die Bremswirkung seiner Prinzipien versagte. Und sie blieb zu stolz,
seine Bremsen händisch zu lösen. (Ein Griff wäre es gewesen, ein einziger.) So
ließ sie ihn unter seiner auferlegten Askese leiden und genoss es, ihn dabei zu
beobachten. Auch das war Erotik. Auch das war Sex. Auch das konnte Liebe sein
oder werden, dachte sie.
     
    Der elfte
Abend mit Aurelius war der heilige - und zugleich Katrins 29. Geburtstag. Er
fiel insofern aus dem Rahmen, als sie ihn im Hause Schulmeister-Hofmeister
verbrachten, um nicht zu sagen »feierten«. Katrin hätte Aurelius nie mitgenommen,
hätte er nicht darauf bestanden. Und sie hätte ihren Eltern nie einen Mann im
Stadium des »Verehrens« zum »Stille-Nacht-Gesang« vor den Christbaum gestellt,
hätten sie nicht förmlich darum gebettelt.
    Gleich bei
der Begrüßung war Katrin klar, wie sich der Abend entwickeln würde. Die Mutter
fiel der Tochter weinend um den Hals und sagte: »Goldschatz, du weißt gar
nicht, wie glücklich du uns machst.« Der Vater legte Aurelius den Arm um die
Schulter und setzte einen vermutlich stundenlang vor dem Spiegel trainierten »Gratuliere-sie-gehört-jetzt-dir-sei-gut-zu-ihr«-Blick
auf.
    Anschließend
wurde Aurelius durch die Räume der Altbauwohnung geführt, als stünde er
unmittelbar vor der Übernahme derselben. Die Mutter startete eine erstaunlich
lange Serie von Sätzen, die mit »Und da hat unsere Kleine immer« begannen.
(Dann kam je nach Örtlichkeit: Barbie gespielt, Keksi genascht, Lulu gemacht
und so weiter.)
    Der Tisch
war wahrscheinlich seit einer Woche für diesen Anlass geschmückt worden. Die
Gedecke von Katrin und Aurelius waren etwa drei Millimeter voneinander getrennt.
Aus den roten Servietten hatte Frau Schulmeister-Hofmeister Herzen geschnitten,
die einander berührten.
    Während
des Essens erzählte die Mutter, wie man gute Weihnachtsgänse von schlechten
Karpfen unterscheiden konnte, oder so ähnlich, und warum Katrin als Kind weder
Gans noch Fisch gegessen hatte. (Weil sie sich von Schokobananen ernährt
hatte.) Es waren Erzählungen, bei denen sich Zuhörer Gesichtsmuskelzerrungen
einfingen, weil sie ein einmal aufgesetztes Lächeln nie mehr abbrechen durften,
weil eine darauf gerichtete »lustige Geschichte« die nächste jagte. Mutter
Schulmeister war eine begnadete Erzählerin solcher Geschichten.
    »Und warum
isst du heute nichts, Goldschatz?«, fragte sie in einer Pause. »Mir ist nicht
besonders gut«, erwiderte Katrin. »Ja, die Liebe!«, sagte der Vater, zwinkerte
der Mutter diabolisch zu, boxte Aurelius auf den Oberarm. Und alle drei
lachten.
    Sonst
konzentrierte sich das Geschehen ganz auf den neuen Mann. Als er eine dritte
Portion Rotkraut ablehnte, war die Mutter drauf und dran, sich aus dem Fenster
zu stürzen. Nach dem Essen stimmte der Vater, bereits mit schwerem Zungenschlag
vom Campari (bei dem er hängen geblieben war, weil niemand Wein trinken
wollte), eine feierliche Tischrede an. Dazu verwendete er die Hand des jungen
Mannes und schüttelte

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