Glattauer, Daniel
einziger frevelhafter, verwerflicher, zerstörerischer Kuss. Das
war der feine Unterschied zwischen sexuellem Denken und Tun, darum zelebrierte
er das eine und ließ das andere lieber sein.
Und eben
deshalb irritierte ihn Katrins »Ich will mir dir schlafen und neben dir
einschlafen«. Er hatte das schizophrene Gefühl, dass sie leichtfertig
aussprach, was er selbst noch viel mehr wollte als sie. Er wünschte es so sehr,
dass er nie gewagt hätte, es zu formulieren, schon gar nicht in dieser Direktheit.
Sein Verlangen war zu groß für Worte, die auf Umsetzung drängten. Katrin
verlangte zu viel für ihn - und von ihm.
Außerdem
wollte er gerade abbiegen. Sie erwischte ihn mit ihrer Offenbarung ausgerechnet
bei der Generalprobe zur Flucht an den Indischen Ozean. Er hatte das Flugticket
und den Hotelgutschein zugesandt bekommen. Er hatte sein Sommergewand
ausgepackt und von seinem Spiegelbild vorführen lassen. Er hatte das Fenster
geöffnet, sich hinausgelehnt, dem aus finsteren Löchern pfeifenden Sturm
Vergeltung geschworen und der vergrabenen Sonne eine Befreiungsaktion in
Aussicht gestellt. Er war im Begriff, sich mit eigener Kraft aus dem
Schneematschsumpf zu ziehen und sich von der weihnachtlich überschminkten
städtischen Kettenpflicht zu befreien.
Katrin
holte ihn mit ein paar Worten zurück. Die Vorstellung, die Verlockung, die
Aufforderung, mit ihr zu schlafen und neben ihr einzuschlafen, ließ ihn nicht
mehr los. Er beschloss, es zu tun (kostete es auch einen Kuss zu viel und
verursachte es damit einen Abbruch und ein endgültiges Aus). Danach beschloss
er, es nicht zu tun. Danach beschloss er, Paula zu fragen. Danach beschloss er,
Paula nicht zu fragen, da er selbst schon erwachsen war.
Danach
schrieb er an Katrin: »Ich will es auch, aber ich brauche noch ein bisschen
Zeit.« Danach löschte er: »Aber ich brauche noch ein bisschen Zeit.« (Wenn er
hilflos war, neigte er dazu, sich an die fürchterlichsten Phrasen der
Menschheit zu versklaven.) Danach las er laut, was als Antwort übrig geblieben
war: »Ich will es auch.« Danach las er es so oft, bis sich die letzten
Stirnfalten der Unzufriedenheit lösten. Danach hielt er etwa fünf Stunden lang
(zehn Sekunden waren es sicher) seinen linken Zeigefinger auf die Taste
»Mitteilung senden«. Dann musste ihn irgendwer gestoßen haben, sodass der
Finger auf die Taste tippte und den Befehl ausführte. Kurt war es nicht. Der
lag unter seinem Sessel und schlief.
Katrin las
sein »Ich will es auch« erst am späten Nachmittag. Bis dahin hasste sie sich
zunehmend für ihr Talent, Situationen heraufzubeschwören, in denen sie nichts
anderes tun konnte, als zu warten. In der Früh würgte sie den Computer bis zur
virtuellen Bewusstlosigkeit, aber er gab keine Antwort-Mail her. In der
Ordination verfluchte sie die Telefongesellschaft, die ihr Aurelius statt Max
in die Leitung gelegt hatte. Strafweise warf sie ihn mit einer nur unwesentlich
freundlicheren Umschreibung von »Falsch verbunden« sofort aus dem Netz. Die
drei letzten Patienten des Tages wurden blindlings heimgeschickt. Katrin musste
vorzeitig nach Hause, um nachzusehen, ob elektronische Post von Max eingelangt
war. - Und sie war es. Das beendete Katrins fahrlässig herbeigeführte Qual.
Max' »Ich
will es auch« wirkte etwa eine Stunde. Es war eine klare, schöne und spannende
Nachricht, die Katrin dazu drängte, ein aufwühlend heißes Beruhigungsbad zu
nehmen. Danach kühlte der Abend rasch ab. Und plötzlich kam ihr die Antwort
unbefriedigend und mangelhaft vor. Sie klang wie: »Einverstanden.« Wie: »Okay«
Wie: »Warum auch nicht.« Wie: »Kann nicht schaden.« Der Antwort fehlte Feuer.
Und ihr fehlte ein zweiter Teil. Ihr fehlte das Entscheidende, die
Entscheidung, der Schritt weiter.
Da Katrin
weder außer Haus gehen noch den Abend mit einem unverbindlichen »Ich will es
auch« alleine verbringen wollte, besuchte sie telefonisch ihre beiden treuesten
Freundinnen. Beate erwischte sie in einer Hochphase mit Joe. Sie hatte ihm
gerade den letzten Seitensprung verziehen, und er hatte sich dafür mit einem
eigens für sie einstudierten Love-Song (den ihm sein Freund Bruce Springsteen
geliehen hatte) bedankt. »War er bei dir?«, fragte Katrin. »Nein, er hat mir
ein Demoband geschickt, mit Eilboten sogar. Weißt du, er sagt, wenn er mich
sieht, dann ist er so verwirrt, dass er gar nicht singen kann.« Außerdem hatte
er ihr ein langes Wochenende zu zweit versprochen. »Wann?«, fragte
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