Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
sie so unglücklich ist, nicht wahr?
Tim hatte das nicht gewollt. Das war ja das Problem. Er hatte Gracie nicht zum Weinen bringen wollen. Gracie war der einzige Mensch, der ihm etwas bedeutete. Sie war ihm in dem Moment einfach in die Quere gekommen. Er hatte überhaupt nicht nachgedacht, als er sich Bella geschnappt und ihr die Arme und Beine ausgerissen hatte. Er hatte einfach irgendetwas tun müssen, weil er innerlich so gekocht hatte. Aber wie sollte Gracie das verstehen, wenn sie nicht innerlich kochte? Sie sah nur die Gemeinheit, mit der er Bella geschnappt und zerrissen hatte.
Gracie hatte aufgehört zu springen. Tim sah, dass sie schwer atmete. Und dann entdeckte er etwas Neues an Gracie, das ihm einen Schrecken einjagte. Sie bekam Brüste! Er sah genau, wie sie sich unter ihrem Pullover abzeichneten.
Das machte ihn so traurig, dass sich ihm der Blick verschleierte, und als er wieder klar sehen konnte, hatte Gracie wieder angefangen zu springen. Diesmal beobachtete er ihre kleinen Brüste. Er musste sich unbedingt um Gracie kümmern.
Seine Mutter anzurufen wäre völlig zwecklos, dachte er zum zweiten Mal. Dass Gracie Brüste bekam, bedeutete, dass ihre Mum irgendetwas unternehmen musste, zum Beispiel mit ihr in die Stadt fahren und einen Baby- BH kaufen oder was auch immer Mädchen trugen, wenn das mit den Brüsten losging. Das war etwas ganz anderes als die Sache mit dem Trampolin. Aber Niamh würde dazu dasselbe sagen, was sie zu allem sagte: Soll Kaveh sich doch darum kümmern.
Es lief alles auf dasselbe hinaus: Egal, was in den nächsten Jahren auf Gracie zukam, mit der Unterstützung ihrer Mum konnte sie nicht rechnen, denn es bestand kein Zweifel daran, dass in Niamh Cresswells Lebensplanung die Kinder, die sie mit ihrem nichtsnutzigen Ehemann gezeugt hatte, nicht vorkamen. Also mussten entweder Tim oder Kaveh Gracie beim Erwachsenwerden beistehen. Oder sie mussten es gemeinsam tun.
Tim verließ sein Zimmer. Kaveh war irgendwo im Haus, und am besten sagte er ihm jetzt gleich, dass sie mit Gracie nach Windermere fahren mussten, um ihr zu besorgen, was sie brauchte. Wenn sie es nicht taten, würden die Jungs in der Schule sie aufziehen. Und irgendwann würden auch die Mädchen damit anfangen. Aber Tim würde nicht zulassen, dass die anderen Kinder seine Schwester herumschubsten.
Als er die Treppe hinunterging, hörte er Kaveh reden. Seine Stimme kam aus dem Kaminzimmer. Die Tür stand einen Spaltbreit offen, und Licht fiel in den Flur. Tim hörte, wie mit einem Schürhaken im Kamin herumgestochert wurde.
»… habe ich eigentlich nicht vor«, sagte Kaveh höflich zu jemandem.
»Sie haben doch nicht etwa vor zu bleiben, jetzt, wo Cresswell tot ist.« Tim erkannte George Cowleys Stimme. Und er wusste sofort, worüber die beiden sprachen: über die Bryan Beck Farm. Offenbar witterte George Cowley seine Chance, das Gutshaus zu kaufen.
»Doch, das habe ich vor«, sagte Kaveh.
»Ach, Sie wollen wohl Schafe züchten?« Die Vorstellung schien Cowley zu amüsieren. Wahrscheinlich stellte er sich gerade vor, wie Kaveh in pinkfarbenen Gummistiefeln und einer fliederfarbenen Regenjacke zwischen den Schafen herumhüpfte.
»Ich hatte gehofft, Sie würden das Land weiterhin pachten«, sagte Kaveh. »Das war doch bisher eine gute Lösung. Ich wüsste nicht, warum es das nicht auch in Zukunft sein sollte. Abgesehen davon würde das Land ziemlich viel einbringen, falls es einmal zum Verkauf kommen sollte.«
»Und Sie glauben wohl, ich hätte sowieso nicht genug Geld, um es zu kaufen, was? Können Sie es sich denn etwa leisten? Das ganze Anwesen wird in ein paar Monaten versteigert, und dann werde ich mit meinem Geld bereitstehen.«
»Ich fürchte, da täuschen Sie sich«, entgegnete Kaveh.
»Was soll das heißen? Wollen Sie etwa behaupten, er hätte Ihnen das Haus vermacht?«
»Genau das hat er getan.«
Einen Moment lang war es still. Offenbar musste Cowley die Neuigkeit erst einmal verdauen. Schließlich sagte er: »Sie wollen mich verarschen.«
»Ganz und gar nicht.«
»Ach nein? Und wovon wollen Sie die Erbschaftssteuern bezahlen?«
»Zerbrechen Sie sich mal nicht meinen Kopf, Mr. Cowley«, sagte Kaveh.
Wieder war es still. Tim fragte sich, was in George Cowley vorging. Und zum ersten Mal fragte er sich, ob Kaveh Mehran etwas mit dem Tod seines Vaters zu tun hatte. Es war doch ein Unfall gewesen, oder? Alle hatten das gesagt, selbst der Coroner. Aber auf einmal kam Tim das alles gar nicht mehr so
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