Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
hatte sich längst abgeregt, als er den See erreichte, denn die Fahrt bis dorthin hatte zwanzig Minuten gedauert. Allerdings hatte er sich nur äußerlich beruhigt; an seinen Gefühlen hatte sich nichts geändert. Und in erster Linie fühlte er sich verraten.
Das Argument »Unsere Lebensumstände sind nicht miteinander vergleichbar« beschwichtigte Ian nicht mehr. Anfangs hatte er das noch akzeptiert. Vor lauter Liebestrunkenheit war es ihm gar nicht in den Sinn gekommen, darüber nachzudenken, ob sein junger Lover dasselbe tun würde, was er von ihm verlangt hatte. Mit Kaveh Mehran zusammen aus dem Haus zu gehen, hatte ihm gereicht. Es hatte gereicht, um seine Frau und seine Kinder zu verlassen, um – das hatte er sich selbst, Kaveh und ihnen erklärt – endlich offen der sein zu können, der er war. Keine heimlichen Fahrten nach Lancaster mehr, kein namenloses Fummeln und Ficken mehr. Damit hatte er sich jahrelang begnügt in der Überzeugung, dass es wichtiger war, andere vor dem zu schützen, was er sich selbst viel zu spät eingestanden hatte. Dass das wichtiger war, als zu sich selbst zu stehen. Und genau das hatte Kaveh ihn gelehrt. Kaveh hatte gesagt: »Entweder sie oder ich«, und dann hatte er an der Tür geklingelt, war ins Haus gekommen und hatte gefragt: »Sagst du’s ihnen, oder soll ich es tun, Ian?« Und anstatt zu entgegnen: »Wer zum Teufel sind Sie, und was haben Sie hier zu suchen?«, hatte Ian sich geoutet und war mit Kaveh gegangen und hatte es Niamh überlassen, den anderen alles zu erklären, falls sie das denn wollte. Aber jetzt fragte er sich, was er sich dabei gedacht hatte, welcher Wahnsinn ihn da geritten hatte, ob er vielleicht tatsächlich geisteskrank war.
Das fragte er sich nicht, weil er Kaveh Mehran nicht mehr liebte oder mit an Irrsinn grenzender Leidenschaft begehrte. Nein, er fragte es sich, weil er keinen Augenblick überlegt hatte, was er den anderen damit angetan hatte. Und er fragte es sich, weil er ebenso wenig darüber nachgedacht hatte, was es heißen könnte, wenn Kaveh nicht bereit war, dasselbe für ihn zu tun, was Ian für ihn getan hatte.
In Ians Augen wäre Kavehs Bekenntnis zu ihm eine ziemlich einfache Angelegenheit und viel weniger zerstörerisch als das, was Ian getan hatte. Okay, Kavehs Eltern waren Ausländer, aber sie waren nur in kultureller und religiöser Hinsicht Fremde. Immerhin lebten sie schon seit mehr als zehn Jahren in Manchester, es war also nicht so, als trieben sie in völlig unbekannten ethnischen Gewässern. Kav und er lebten jetzt schon über ein Jahr zusammen, und es wurde allmählich Zeit, dass Kaveh die Wahrheit über das aussprach, was sie einander bedeuteten. Dass Kaveh diese simple Tatsache nicht begriff, dass er nicht mit seinen Eltern darüber reden konnte … Das war so unfair, dass Ian nur noch schreien wollte.
Und dieses Bedürfnis zu schreien musste er loswerden. Denn er wusste, dass es ihm nichts nützen würde.
Als er ankam, stand das Tor von Ireleth Hall offen, was in der Regel bedeutete, dass Besuch da war. Aber Ian hatte keine Lust, irgendjemandem zu begegnen, und deswegen ging er nicht auf das mittelalterliche Haus zu, das sich über dem See erhob, sondern folgte einem Weg, der direkt zum Ufer führte und zu dem steinernen Bootshaus.
Hier lag sein Skullboot. Es war lang und schmal und lag nur flach im Wasser, und es war gar nicht so einfach, von dem gemauerten Anleger aus ein- und wieder auszusteigen. Noch schwieriger war es jetzt, weil das Bootshaus keine Beleuchtung besaß. Normalerweise reichte das Licht aus, das durch die zum See gelegene Einfahrt hereinfiel, aber heute war der Himmel bewölkt, und zudem war es schon fast dunkel. All das jedoch durfte jetzt keine Rolle spielen, denn Ian musste raus auf den See, die Ruder ins Wasser tauchen, Tempo aufnehmen und sich verausgaben, bis ihm der Schweiß über den Rücken rann und er nur noch die Anstrengung spürte und sonst nichts.
Er machte das Boot los und hielt es ganz nah am Anleger fest. Drei Steinstufen ins Wasser, aber sie waren von Algen bewachsen und tückisch glatt, denn sie waren seit Jahren nicht gereinigt worden. Ian hätte die Stufen leicht schrubben können, doch das Problem fiel ihm immer nur auf, wenn er sein Boot benutzte, was er nur tat, wenn er Bewegung nötig hatte, und dann hatte er es immer ziemlich eilig.
Diesmal war es nicht anders. Die Festmachleine in der einen Hand, die andere Hand am Dollbord, stieg er vorsichtig ein, wobei er
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