Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
offenen Kamin in einem Sessel saß, neben sich Kaveh in einem ähnlichen Sessel, beide ein Glas Wein in der Hand bei einer zwanglosen Plauderei nach einem langen Tag, genauso wie Millionen von Paaren in Millionen von Häusern rund um den Globus.
Das, sagte er sich, war es, wovon er träumte. Das und der Friede, den es einem gab. Es war doch nicht zu viel verlangt: einfach nur ein ganz normales Leben.
So vergingen einige Minuten: kaum Geräusche, Ian entspannt, das Boot im Einklang mit den Bewegungen des Sees. Wenn es nicht geregnet hätte, wäre er vielleicht sogar eingeschlafen. Aber er war schon ziemlich durchnässt, und nach einer Weile entschloss er sich, zum Bootshaus zurückzurudern.
Er schätzte, dass er etwas über eine Stunde auf dem Wasser gewesen war, und als er sich dem Ufer näherte, war es stockdunkel. Die Bäume am Ufer waren nur noch als geometrische Formen zu erkennen: spitze Koniferen wie Menhire, Birken wie zarte Striche vor dem Nachthimmel, dazwischen Ahornbäume, deren Laub im Regen zitterte. Ein Pfad führte zum Bootshaus, vom Wasser aus betrachtet eine verspielte Konstruktion, denn selbst in der Dunkelheit und in dem Wetter hob es sich wie ein Märchenschlösschen vom Ufer ab.
Ian fiel auf, dass die Außenlampe durchgebrannt war. Normalerweise schaltete sie sich bei Einbruch der Dunkelheit ein und beleuchtete wenigstens den Außenbereich des Bootshauses. Aber wo ein gelber Lichtschein – zumindest bei besserem Wetter – Motten angelockt hätte, war es jetzt dunkel. Ian nahm sich vor, sich auch um die Lampe zu kümmern, wenn er sich die veralgten Stufen vornahm.
Er steuerte das Bootshaus an und glitt hinein. Die Dunkelheit im Innern war undurchdringlich. Außer seinem Skullboot lagen hier noch drei weitere Boote. Ein ziemlich abgenutztes Angelruderboot, ein Schnellboot und ein Kanu unbestimmten Alters und noch unbestimmterer Seetauglichkeit, alle willkürlich am Anleger vertäut. Er musste sich zwischen diesen drei Booten hindurcharbeiten, um bis ans hintere Ende zu gelangen, und es gelang ihm ganz gut, sich im Dunkeln vorzutasten, obwohl er einmal mit der Hand zwischen das Ruderboot und sein Skullboot geriet und laut fluchte, als seine Finger zwischen dem Fiberglas und dem Holz eingequetscht wurden.
Er quetschte sich die Hand noch einmal zwischen Boot und Mauer, und diesmal spürte er, dass er blutete. »Verflucht«, murmelte er und drückte seine Knöchel kurz gegen seine Rippen. Es tat höllisch weh, und er nahm sich vor, etwas besser aufzupassen.
In seinem Auto lag eine Taschenlampe, und er hatte noch genug Sinn für Humor, um sich dafür zu gratulieren, dass er sie dort gelassen hatte, wo sie ihm überhaupt nichts nützte. Etwas vorsichtiger streckte er die Hand nach der Mauer aus und tastete nach dem Metallring, an dem er sein Boot vertäuen konnte. Wenigstens konnte er den Knoten mit verbundenen Augen machen. Anschließend zog er die Füße aus den Stemmbrettschuhen. Dann verlagerte er sein Gewicht und griff nach der Steinmauer, um sich aus dem Boot zu hieven.
Es passierte, als er mit einem Fuß auf einen einzelnen Stein am Rand trat und mit dem anderen Fuß noch im Boot stand. Der Stein, der offenbar schon locker saß, löste sich ganz, Ian verlor das Gleichgewicht, und sein Boot, das nur am Bug befestigt war, schoss nach hinten. Ian stürzte in das eiskalte Wasser.
Dabei schlug er mit dem Kopf auf der Mauer auf. Als er im Wasser landete, war er bewusstlos, und wenige Minuten später war er tot.
25. Oktober
WANDSWORTH – LONDON
Sie hielten es immer noch so wie anfangs. Sie gab ihm ein Zeichen, und er fuhr zu ihr. Manchmal war es die Andeutung eines Lächelns, ein leichtes Schürzen der Lippen, so kurz, dass jemand, der seine Bedeutung nicht kannte, es gar nicht bemerkt hätte. Manchmal waren es nur die im Vorbeigehen auf dem Korridor gemurmelten Worte heute Abend? Manchmal, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten oder in der Kantine, oder wenn sie morgens zufällig gleichzeitig in der Tiefgarage eintrafen, lud sie ihn ganz offen ein. Aber in jedem Fall wartete er auf ein Zeichen von ihr. Das gefiel ihm nicht, doch er hatte keine andere Wahl. Sie war unter keinen Umständen bereit, zu ihm zu kommen, und selbst wenn sie dazu bereit gewesen wäre, sie war seine Vorgesetzte, und sie hatte das Sagen.
Nur einmal, ganz zu Anfang, hatte er erwähnt, sie könnten auch zu ihm gehen. Er hatte gedacht, es wäre ein Zeichen, wenn sie eine Nacht bei ihm in Belgravia verbrachte. Als
Weitere Kostenlose Bücher