Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
egal, was für ein verlogenes Leben er mit seiner Frau und seinen Eltern führte. Und Gracie würde sich freuen, Bella wiederzuhaben. Vielleicht würde sie Tim sogar verzeihen, dass er Bella kaputt gemacht hatte.
Nachdem das also erledigt war, hatte er sich von seinem restlichen Geld eine Tüte Marshmallows, einen Kitkatriegel, einen Apfel und eine Portion Nachos mit Salsa und Bohnen gekauft, sich zwischen einem verdreckten weißen Ford Transit und einer mit Styroporresten überquellenden Mülltonne versteckt und alles aufgegessen. Dann war er zu dem Geschäftszentrum gegangen und hatte dort gewartet.
Als ein Laden nach dem anderen zumachte und der Parkplatz sich zu leeren begann, duckte er sich hinter eine Mülltonne, von wo aus er den Fotoladen im Auge behalten konnte. Kurz vor Ladenschluss lief er hinüber und betrat den Laden.
Toy4You hielt gerade die Schublade mit dem Geld in den Händen, die er aus der Kasse genommen hatte, so dass er sein Namensschild nicht entfernen konnte. Tim gelang es, einen Teil davon zu lesen, ehe der Mann sich abwandte: William Con … Der Mann verschwand im Hinterzimmer und kam gleich darauf ohne Geldschublade und ohne Namensschild wieder heraus. Und er war alles andere als gutgelaunt.
»Ich hab dir gesagt, ich würde dir eine SMS schicken«, sagte er. »Was hast du hier zu suchen?«
»Es passiert heute Nacht«, antwortete Tim.
»Hör mir gut zu: Ich spiele keine Machtspielchen mit einem Vierzehnjährigen. Ich hab gesagt, ich gebe dir Bescheid, sobald ich alles vorbereitet habe.«
»Dann kümmer dich jetzt darum. Du hast gesagt, diesmal nicht allein, und das heißt, dass du jemanden kennst. Hol ihn her. Wir machen es hier.« Tim schob sich an dem Mann vorbei. Er sah, wie dessen Gesicht sich verdüsterte. Es war Tim egal, ob es so weit kam, dass Toy4You ihn schlug. Schläge konnte er wegstecken. So oder so würde von jetzt an alles seinen Lauf nehmen.
Er war schon oft im Hinterzimmer des Ladens gewesen, also konnte ihn hier nichts überraschen. Es war ein kleiner Raum, der in zwei Bereiche aufgeteilt war. Im vorderen Bereich standen ein Drucker und alles, was man zur Bearbeitung von Fotos brauchte. Der hintere Bereich diente als Fotostudio, wo man sich vor unterschiedlichen Hintergrundbildern fotografieren lassen konnte.
Diesmal war das Studio eingerichtet wie ein Salon aus dem vorigen Jahrhundert, in dem die Leute früher steif für Fotos posiert hatten, entweder stehend oder sitzend. Es gab eine Chaiselongue, zwei Säulen, auf denen jeweils ein Topf mit einem künstlichen Farn stand, mehrere Sessel, schwere Samtvorhänge, die von dicken Seilen mit Troddeln zurückgehalten wurden, und eine Kulisse, die die Szenerie so wirken ließ, als hätte jemand oben auf einer Klippe, vor einem tiefblauen Himmel voller weißer Kumuluswolken, Möbel arrangiert.
Tim hatte inzwischen kapiert, dass diese Kulisse etwas mit Kontrast zu tun hatte. Und Kontrast, das hatte er auch gelernt, bestand darin, dass zwei Dinge in einer Art Widerspruch zueinander standen. Als Toy4You ihm das bei seinem ersten Besuch erklärt hatte, musste er sofort an den Kontrast zwischen dem denken, was er einmal für sein Leben gehalten hatte – eine Mutter, ein Vater, eine Schwester, ein Haus in Grange-over-Sands –, und das, was aus seinem Leben geworden war, nämlich nichts. Als er jetzt hier stand, dachte er an den Kontrast zwischen dem Leben, das Kaveh Mehran mit seinem Vater geführt hatte, und dem scheinheiligen Leben, das Kaveh in Zukunft führen würde. Dann riss er sich von dem Gedanken los und konzentrierte sich stattdessen auf den wirklichen Kontrast, der vor ihm lag, zwischen dieser unschuldigen Kulisse und dem Inhalt der Fotos, die hier entstehen würden.
Toy4You hatte ihm das alles erklärt, als er zum ersten Mal für ihn posiert hatte. Manche Menschen, hatte er gesagt, fänden Gefallen daran, sich Fotos von nackten Jungs anzusehen. Fotos, auf denen diese Jungen auf ganz bestimmte Weise posierten. Vor allem würden diese Leute sich für ganz bestimmte Körperteile interessieren. Manchmal reiche die bloße Andeutung eines Körperteils aus, aber manchmal müsse er direkt zu sehen sein. Manche Kunden legten Wert darauf, auch das Gesicht des Jungen zu sehen, andere nicht. Ein Schmollmund komme immer gut. Ebenso ein Blick, der sagte: Du kannst mich haben , wie Toy4You sich ausdrückte. Noch besser sei es, wenn er sich einen hochholte für die Kamera. Manche Leute seien bereit, eine Menge Geld für diese
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