Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
dazu. »Wissen Sie, was merkwürdig ist?«, fragte sie und hakte sich bei ihm unter. »Nach mehr als vierzig Jahren Ehe wird ein Mann zu einer Angewohnheit. Ich muss mir überlegen, ob Bernard eine Angewohnheit ist, die ich ablegen möchte.«
»Und?«
»Vielleicht. Aber zuerst brauche ich ein bisschen Zeit zum Nachdenken.« Sie drückte seinen Arm und lächelte ihn an. »Sie sind ein sehr attraktiver Mann, Inspector. Es tut mir leid, dass Sie Ihre Frau verloren haben. Sie haben doch hoffentlich nicht vor, allein zu bleiben.«
»Darüber habe ich noch nicht so richtig nachgedacht«, gab er zu.
»Das sollten Sie aber. Jeder muss sich irgendwann entscheiden.«
WINDERMERE – CUMBRIA
Tim wartete in dem Geschäftszentrum stundenlang auf den richtigen Zeitpunkt. Nachdem er am Morgen aus Kavehs Auto gestiegen war, hatte er nicht lange bis Windermere gebraucht. Er war über eine niedrige Feldsteinmauer gesprungen, über eine unebene Weide bis zu einem Wald gerannt, hatte sich dort im Gestrüpp hinter einem umgestürzten Baum versteckt und gewartet, bis Kaveh weggefahren war. Dann war er zur Straße zurückgegangen und in die Stadt getrampt.
Einen Puppendoktor hatte er trotz intensiver Suche nicht finden können, dafür aber eine Werkstatt namens J. Bobak & Sohn, die Elektrogeräte reparierte. Zwischen Regalen hindurch, die vollgestopft waren mit kaputten Küchengeräten, ging er in den hinteren Teil der Werkstatt, wo sich der Tresen befand. J. Bobak entpuppte sich als ältere Frau mit grauen Zöpfen und hellrosa Lippenstift, der in die winzigen Fältchen um ihre Lippen herum auslief, und der Sohn als junger Mann mit Downsyndrom. Die Frau reparierte gerade etwas, das aussah wie ein Waffeleisen, während der Sohn an einem alten Röhrenradio von der Größe eines Austin Mini herumbastelte. Um die beiden herum standen alle möglichen reparaturbedürftigen Geräte: Fernseher, Mikrowellen, Mixer, Toaster und Kaffeemaschinen, die alle so aussahen, als warteten sie schon ewig darauf, dass sich jemand ihrer annahm.
Als Tim Mrs. J. Bobak Gracies Puppe gezeigt hatte, hatte die nur den Kopf geschüttelt. Da sei nichts zu machen, sagte sie, selbst wenn sie auf die Reparatur von Spielzeug spezialisiert wären, was nicht der Fall war. Er solle lieber ein bisschen sparen und seiner Schwester eine neue Puppe kaufen. Ganz in der Nähe gebe es ein Spielzeuggeschäft, das …
Es müsse diese Puppe sein, hatte er J. Bobak erklärt. Er wusste, dass es unhöflich war, jemanden zu unterbrechen, und er entschuldigte sich bei der Frau. Die Puppe, erklärte er ihr, habe sein Vater seiner kleinen Schwester geschenkt, und sein Vater sei jetzt tot. Das erregte J. Bobaks Mitleid. Sie legte die Einzelteile der Puppe auf dem Tresen nebeneinander, schürzte die pinkfarbenen Lippen und betrachtete Bella nachdenklich. Dann war ihr Sohn dazugekommen. »Hallo«, sagte er zu Tim. »Ich geh nicht mehr zur Schule, aber du müsstest doch eigentlich in der Schule sein, oder? Hast wohl geschwänzt, was?« Seine Mutter sagte: »Kümmer dich um deine Angelegenheiten, Trev, mein Schatz«, und klopfte ihm auf die Schulter. Daraufhin war er zu seinem Radio zurückgeschlurft.
»Bist du dir ganz sicher, dass du keine neue Puppe kaufen willst?«, fragte sie Tim.
Vollkommen, erwiderte Tim. Ob sie Bella reparieren könne? Es gebe in der Stadt keinen Puppendoktor. Er habe überall gesucht.
Schließlich versprach sie ihm, die Puppe so gut wie möglich zusammenzuflicken. Er sagte, er werde ihr die Adresse aufschreiben, an die sie sie schicken solle, wenn sie fertig war, dann nahm er eine Handvoll zerknitterte Geldscheine aus der Tasche, die er mit der Zeit aus der Handtasche seiner Mutter, der Brieftasche seines Vaters und einem Marmeladenglas in der Küche geklaut hatte, in dem Kaveh immer etwas Bargeld aufbewahrte für den Fall, dass ihm das Geld ausging und er keine Zeit hatte, auf dem Heimweg von der Arbeit am Geldautomaten anzuhalten.
»Was?«, fragte J. Bobak. »Du willst sie nicht selbst abholen kommen?«
Nein, antwortete Tim, bis dahin werde er nicht mehr in Cumbria sein. Er sagte, sie solle sich so viel von dem Geld nehmen, wie sie wolle, den Rest könne sie mit der Puppe zusammen an seine Schwester schicken. Dann schrieb er ihr Gracies Namen und Adresse auf: Bryan Beck Farm, Bryanbarrow bei Crosthwaite. Womöglich wohnte Gracie bis dahin längst wieder bei ihrer Mutter, dachte er, aber Kaveh würde ihr die Puppe bestimmt zukommen lassen. Das würde er tun,
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