Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
er, wo ihr Anwesen lag. Er fuhr an einem Pier vorbei, der in das leere Bett des River Kent hineinragte, und bremste, um eine Frau die Straße überqueren zu lassen, die einen Kinderwagen schob und an deren Hose sich ein Kleinkind festhielt, das dick gegen die Kälte eingepackt war. Während er wartete – wenn man in Eile war, schien sich immer alles gegen einen zu verschwören –, las er die Warnhinweisschilder: Achtung, schnell steigende Flut! Achtung, Treibsand! Gefahr! Vorsicht! Warum in aller Welt, fragte er sich, zogen Leute an einem Ort Kinder groß, wo ein falscher Schritt genügte, um in einen nassen Tod gerissen zu werden?
Endlich ging es weiter. Er fuhr durch das Dorf und über die von viktorianischen Villen gesäumte Promenade, bis er die Einfahrt zu Arnside House erreichte. Das Haus, das von einem weitläufigen Rasen umgeben war, bot eine fantastische Aussicht, die allerdings heute durch den immer dichter werdenden Nebel behindert wurde.
Es sah verlassen aus. Nirgendwo im Haus brannte Licht, obwohl es so ein düsterer Tag war. Lynley wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Dass kein Auto vor der Tür stand, ließ zumindest hoffen, dass Deborah sich nicht in eine dumme Situation gebracht hatte.
Er hielt auf dem mit Kies bedeckten Vorplatz. Als er ausstieg, stellte er fest, dass sich die Luft während der wenigen Stunden, die er fort gewesen war, verändert hatte. Sie war derart feucht, dass er das Gefühl hatte, Kiemen zum Atmen zu brauchen.
Er klingelte, obwohl er nicht damit rechnete, dass jemand öffnen würde. Doch dann hörte er drinnen Schritte auf dem Fliesenboden, und im nächsten Augenblick ging die Tür auf. Dann stand die schönste Frau vor ihm, die er je gesehen hatte.
Es traf ihn wie ein Schock: die dunkle Haut, die üppigen Locken, aus dem Gesicht gehalten mit Perlmuttkämmen, die großen, dunklen Augen, der sinnliche Mund, die femininen Kurven. Nur ihre Hände verrieten sie, und das auch nur durch ihre Größe.
Er konnte sich gut vorstellen, wie Alatea und Nicholas Fairclough es geschafft hatten, allen in ihrer Umgebung etwas vorzumachen. Wenn Barbara Havers ihm nicht geschworen hätte, dass es sich bei dieser Frau um Santiago Vasquez del Torres handelte, Lynley hätte es nicht geglaubt. Eigentlich konnte er es immer noch nicht glauben. Deswegen wählte er seine Worte mit Bedacht.
»Mrs. Fairclough?«, sagte er. Als sie nickte, zeigte er ihr seinen Dienstausweis. » DI Thomas Lynley, New Scotland Yard. Ich bin hier, um mit Ihnen über Santiago Vasquez del Torres zu sprechen.«
Sie erbleichte so schnell, dass Lynley fürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie trat einen Schritt von der Tür zurück.
»Santiago Vasquez del Torres«, wiederholte Lynley. »Der Name scheint Ihnen bekannt vorzukommen.«
Sie tastete hinter sich nach der Eichenbank, die an der holzgetäfelten Wand stand, und setzte sich kraftlos darauf.
Lynley trat ein und schloss die Haustür. Durch vier kleine bleiverglaste Fenster mit einem Muster aus roten Tulpen und grünen Blättern fiel weiches Licht auf die Frau, die völlig in sich zusammengesunken war.
Lynley war sich immer noch nicht ganz sicher, wie verlässlich seine Informationen waren, doch er entschloss sich, einen Frontalangriff zu wagen. »Wir müssen miteinander reden. Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie Santiago Vasquez del Torres aus Santa María de la Cruz, de los Ángeles y de los Santos in Argentinien sind.«
»Bitte, nennen Sie mich nicht so.«
»Ist das Ihr wahrer Name?«
»Nicht mehr, seit ich in Mexiko war.«
»Bei Raul Montenegro?«
Sie richtete sich auf. »Hat er sie geschickt? Ist er hier?«
»Mich hat niemand geschickt.«
»Das glaube ich Ihnen nicht.« Sie stand auf, eilte an ihm vorbei und wäre beinahe über die Schwelle an der Tür gestolpert, die in einen langen, dunklen, eichengetäfelten Flur führte.
Lynley folgte ihr. Sie öffnete eine doppelflügelige Tür mit bleiverglasten Fenstern mit einem Muster aus Lilien und Farnwedeln und betrat einen großen Raum, der etwa zur Hälfte restauriert war. Alatea verkroch sich in der Kaminecke, wo sie sich mit angezogenen Knien auf eine Bank setzte.
»Bitte, gehen Sie«, sagte sie, mehr zu sich selbst als zu Lynley. »Bitte, lassen Sie mich in Frieden.«
»Ich fürchte, das geht nicht.«
»Sie müssen gehen. Verstehen Sie das nicht? Niemand hier weiß Bescheid. Sie müssen sofort gehen.«
Lynley konnte sich nicht vorstellen, dass kein Mensch
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