Gleich bist du tot
Gitarristin von Alice Banned, jemand mit eigenem Fanclub, der von schlimmen Dingen nur in der Zeitung las. Jemand, der ein reiches, volles Leben führte. Die, die sie da jetzt im Spiegel sah, erkannte sie kaum. Da stand eine verängstigte, müde, nackte, geschlagene, gefesselte Frau. Eine Frau, die von diesem Scheißzimmer definiert wurde, in dem man sie festhielt. Sie griff nach dem schäbigen, winzigen Handtuch, das neben dem Waschbecken hing, und wischte sich langsam die Tränen weg.
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Vor John Shepherd auf dem Tisch beim Pool lagen sein privates Handy, sein privates Geschäftshandy, sein offizielles Geschäftshandy und eines der Mobilteile des Festnetzanschlusses von Boden Hall. Wenn er nicht in der Stimmung war, mit einem Anrufer zu sprechen, verfolgte er manchmal, wie sie sich durch die Hierarchie der Anschlüsse wählten, um am Ende frustriert aufzugeben. Der Festnetzanschluss war theoretisch nicht gelistet, aber das hielt geldgierige Leute nicht davon ab, sich die Nummer zu besorgen und ihr Glück zu versuchen. Es gab Interviewanfragen, Bitten um Wohltätigkeitsauftritte, und immer wieder sollte er sein Geld investieren, und zwar in die lächerlichsten Projekte, in sogenannte Geschäftsideen und kreative Unternehmungen. Die ganze letzte Woche war er von der Anrufserie eines PR-Lakaien des Geldof-Bono-Zirkus geplagt worden, der ihn für eine Art Anti-Hunger-Auftritt hatte verpflichten wollen. Als könnten die Probleme des weltweit wild wuchernden Kapitalismus von ein paar Musikern gelöst werden, die ein, zwei Barré-Akkorde anschlugen, sich auf die Schultern klopften und gegenseitig ihre Egos aufmöbelten. Auf den Handys bekam er weniger nutzlose Anrufe, aber auch sie bildeten keinen Schutz gegen die Drängler, Träumer und Verrückten dieser Welt. Kelly hatte ihm erzählt, dass es mittlerweile Websites und Diskussionsforen im Internet gab, auf denen die Telefonnummern bekannter Leute (mit allen möglichen Zusatzinformationen) verteilt, gehandelt und ausgetauscht wurden. Dagegen ließ sich kaum mehr unternehmen, als regelmäßig die Nummern zu wechseln. Er hatte seit dem Morgen nichts mehr getrunken und war jetzt mehr oder weniger nüchtern. Endlich einmal hatte er Kellys Rat beherzigt. Falls January tatsächlich in Schwierigkeiten sei, hatte sie argumentiert, werde er nicht unbedingt in der Lage sein zu helfen, wenn er randvoll mit Cognac durch Boden Hall stolpere. Du musst in bester Verfassung sein, bis das geklärt ist, John, hatte sie gesagt, und nachdem er bereits die zweite Flasche Fussigny XO zur Hälfte geleert hatte, hörte er endlich auf sie, duschte, zog sich richtig an, schluckte ein paar Ibuprofen und zwang einen Liter stilles Malvern-Mineralwasser herunter.
Kelly war in der Küche und kochte zusammen mit Birgit ein »Kater Spezial«, wie sie es genannt hatte. Er müsse dringend »was Richtiges« in den Magen bekommen. Er hatte daraufhin nur etwas Unflätiges geknurrt, sich aber gleich ganz elend gefühlt, weil er den trunkenen Witzbold gab, wo doch das Leben seiner Tochter auf dem Spiel stand. Stehen konnte: Das musste er sich immer wieder sagen. Es konnte so sein. Musste aber nicht. Nicht sicher. Er trank jetzt Kaffee, allerdings mit Milch: Er glaubte nicht, dass sein Magen das Zeugs schon schwarz vertragen würde. Er schüttete sich nach und starrte über den Pool. Das Anwesen war groß, riesig, und doch zog es ihn immer wieder hierher oder an den Pool draußen, wenn das Wetter gut genug war. Das musste eine Folge all der Jahre in Südkalifornien sein, dachte er manchmal, wo man sein ganzes Leben am Pool verbringen konnte. Er versuchte sich darüber klar zu werden, wie viel er aktuell wirklich von seiner Tochter wusste und ob sie in letzter Zeit etwas gesagt oder angedeutet hatte, das einen Hinweis darauf geben konnte, was da jetzt passiert war oder wo sie sein mochte. Nein, das hatte sie nicht. Seit ein paar Jahren schon lebte sie nicht mehr bei ihm, noch bevor er die Staaten verlassen hatte, um hierher zurückzukommen, war sie ausgezogen. Zu ihrem achtzehnten Geburtstag hatte er ihr eine Wohnung geschenkt, ein Apartment an der Nordseite der Ocean Avenue mit Blick über die Bucht. Rote Sonnenuntergänge. Vormittage mit sanfter Meeresbrise. Da hatte er sie von Zeit zu Zeit noch gesehen (wenn auch nicht so oft, wie es ihm gefallen hätte), da kam sie noch zu ihm in sein Haus im Canyon, wenn ihr danach war. Besonders wenn sie in seinem Aufnahmestudio herummachen oder mit Susanne, Kellys
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