Gleich bist du tot
die Videobande keine Masken getragen, und gefilmt worden war sie ihres Wissens auch nicht. Und auch, wie sie vorgegangen waren: Es war ein Hinterhalt gewesen, als hätten sie gezielt auf sie gewartet, auf sie und niemanden sonst. Und dann, was sie mit Perry gemacht hatten. Perry! Er hatte sie verteidigen wollen, und sie hatten ihn geschlagen, als wäre er ein Tier. So gut wie tot war er gewesen, und sie hatten ihn einfach da zurückgelassen. Die Erinnerung überkam sie wie eine kalte, klamme Krankheit. Vielleicht war er schon tot. Denk an etwas anderes. Irgendetwas. Die mittelalterliche Nonne. Nein, nicht an die. January biss sich auf die Zunge in ihrem zugeklebten Mund. Nicht an die. Das hier ist was anderes. Irgendwas Wahnsinniges, wo sie dich einfach einschließen und allein lassen. Um dich auszuhungern. Dich wahnsinnig zu machen. Und dann . . .
26
John Shepherd klickte sich durch das Adressbuch seines Telefons und fand drei Nummern von Chief Constable »Dud« Bentham: Ferkels Zuhause, Ferkels Büro, Ferkels Privathandy. Berühmt zu sein, war sinnlos, wenn man seine Berühmtheit nicht nutzte. Seit er wieder hergezogen war, hatte Shepherd es darauf angelegt, die örtlichen Größen und Strippenzieher kennenzulernen, was jemandem wie ihm keine großen Mühen bereitete. Sagen wir es so: Er hatte einigen von ihnen (und Bentham hatte da eine bevorzugte Rolle gespielt) erlaubt, seine Bekanntschaft zu machen. Drüben in Santa Monica war er nur eine reiche Sau unter vielen anderen reichen Säuen der Unterhaltungsindustrie gewesen, eine von Hunderten, wo Touristen höchstens mit dem Auge zuckten, wenn sie J. Lo beim Einkaufen sahen oder Brad, wie er ein Bier trank. Seine Ankunft in Boden Hall dagegen war in den Nachrichten gewürdigt worden. Das war eine Riesensache gewesen, und so hatte er sich hier und da gezeigt, hatte ein paar langweilige Essen gegeben und war zu dieser und jener geisttötenden Wohltätigkeitsveranstaltung gegangen. Der übliche Ich-bin-reich-aber-trotzdem-ein-guter-Kumpel-Schrott.
Er probierte die Handynummer, nachdem weder zu Hause noch im Büro jemand abnahm. Komm schon, Ferkel, geh verdammt noch mal ran. Bentham antwortete schließlich beim fünften Klingeln.
»John, schön von Ihnen zu hören«, sagte er, bevor Shepherd überhaupt einen Ton gesagt hatte. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Das heißt, Chief-Ferkel ist ein echter Fan, dachte Shepherd, offenbar hatte er Boden Halls Nummer auf der VIP-Liste abgespeichert. Shepherd erklärte ihm die Sachlage und hörte nur halb hin, als Bentham die voraussehbaren Beruhigungssprüche abließ, dass es wahrscheinlich keinen Grund gebe, sich Sorgen zu machen, und sich so gut wie sicher eine harmlose Erklärung für all das finden werde. Das Wichtige sparte er sich bis zuletzt auf.
»Ich setze da gleich einen unserer erfahrenen Beamten dran, John. Jetzt sofort, machen Sie sich keine Sorgen.«
»Danke, äh, Dud, ich weiß das zu schätzen. Meine Köchin sagt, es hat in der letzten Nacht auf der Straße zu uns raus irgendeinen Vorfall gegeben. Da muss wohl einer Autos angesteckt haben oder so was. Ich weiß nicht, ob das vielleicht etwas . . .«
»Ich werde dafür sorgen, dass dem nachgegangen wird. Machen Sie sich keine Sorgen, John, wir nehmen die Sicherheit unserer prominenten Mitbürger äußerst ernst.«
Shepherd legte auf, holte eine neue, volle Flasche Brandy aus dem Walnuss-Chiffonier und sagte Kelly, sie solle den Mund halten, als sie es mit einem leisen Einwand versuchte: War er sicher, dass Alkohol so früh am Morgen wirklich helfen würde?
»Meine Tochter ist verschwunden, Kel«, fügte er noch hinzu. »Da brauche ich einen verdammten Schluck, und den genehmige ich mir auch. Wobei, wahrscheinlich nehme ich gleich drei oder vier, so viele, wie ich verdammt noch mal brauche.«
Perry und der Mercedes waren verschwunden. January war nicht in ihrem Zimmer, ihr Bett war unberührt, und sie hatte ihr Handy nicht eingeschaltet. Er hatte mit Nick Bishop im »Riverside Hotel« gesprochen, aber alles, was der zu sagen wusste, war, dass January letzte Nacht mit Perry im Mercedes davongefahren sei. Sie seien so etwa gegen eins aufgebrochen, hatte das eingebildete, talentlose Arschloch gemeint.
Er hatte sich schon zu oft vorgestellt, wie es sein würde, seine Tochter zu verlieren, war schon zu oft schweißgebadet aus entsprechenden Albträumen hochgeschreckt. John Shepherd griff sich einen georgianischen Römer und füllte ihn bis zum Rand.
Weitere Kostenlose Bücher